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Deutschlands Sehnsucht: Neue Ehrlichkeit

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Es ist, als wollte man in Deutschland jetzt endlich die Neue Ehrlichkeit ausrufen. Denn wer sich die beiden Neuen an der Spitze der Parteien anschaut, wird schnell begreifen, worauf es den politisch interessierten Deutschen offenbar ankommt.

Sowohl Klaus Kinkel, dem die Delegierten des FDP-Parteitags im westfälischen Münster die Bürde der Führung dieser Partei auferlegten, als auch Rudolf Scharping, den die SPD-Mitglieder am vergangenen Sonntag zum Nachfolger des gescheiterten SPD-Vorsitzenden Björn Engholm kürten, verkörpern die Sehnsucht nach Verläßlichkeit und neuem Miteinander. Beide bestechen durch selbstbewußte Bodenhaftung. Beide geben sich kampfbereit, doch beiden scheint die Atmosphäre des eher bläßlichen Saubermanns etwas zu bedeuten.

Daß sich die Mitglieder der SPD nicht für den machtbewußt vorpreschenden und um keine Arroganz verlegenen niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder entschieden, sondern wollen, daß der rheinland-pfälzische Regierungschef die Führung der Partei übernimmt, hat selbst erfahrene Parteihasen überrascht. Aber Scharping, so formulieren es Wähler, wirkt „wie eine richtig ehrliche Haut”. Er gibt sich souverän, informiert und bisweilen auch spitzzüngig. Er dürfte sich sehr schnell als eine echte Herausforderung für Helmut Kohl erweisen, der anläßlich seines 20. Jahrestages als CDU-Vorsitzender seinerseits keinen Zweifel daran ließ, daß er es im Wahljahr 1994 „noch einmal wissen will”. Die Parteibasis hat jedenfalls mit ihrer Entscheidung für Scharping vor allem ihre Entschlossenheit dokumentiert, der SPD wieder zu einem glaubwürdigen Profil zu verhelfen.

Ein solches braucht übrigens auch die FDP. Sie vollzog ihren Führungswechsel in Münster ziemlich lautlos. Dazu trug auch der neue Vorsitzende Klaus Kinkel bei, ein Mann, dem die sachbezogene Arbeit mehr liegt als blumiges Reden. Mit ihm scheint oder soll ein neuer Stil im Umgang miteinander in die liberale Partei kommen, die sich schwer tut, ihren Wählern zu erklären, was liberale Politik eigentlich ausmacht. So sprach Kinkel denn auch vor allem von Werten wie Vertrauen, Bescheidenheit, Anstand, Gemeindesinn und Ehrlichkeit.

Mit Klaus Kinkel, der erst seit zwei Jahren Mitglied der Partei ist, könnte die FDP ein anderes Gesicht bekommen. Doch auf der Suche nach dem Profil wird es wohl kaum ausreichen, wenn Außenminister Kinkel die gute Zusammenarbeit mit Kanzler Kohl lobt und Werthaltungen betont, die keine Unterscheidung etwa zu den Christdemokraten erkennen lassen. Einst stand die liberale Partei für unternehmerorientierte Wirtschaftskompetenz. Heute läuft sie Gefahr, wegen mangelnder Identität zwischen den großen Parteien zerrieben zu werden. Da mag es wie ein schlechtes Omen wirken, daß der frischgekürte Parteivorsitzende am Rande des Parteitags in Münster auf einen Hengst stieg - und sofort runterfiel. Diesen Härtetest überstand Kinkel ohne Blessuren. Der Satteltest in der Führung einer eigenwilligen und schwierigen Partei steht ihm noch bevor.

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