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Die gefährlichen Nadeln

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Die besten Akupunkturärzte hingegen sind Überzeugt, daß eine erfolgreiche und vor allem völlig gefahrlose Anwendung dieser altchinesischen Nadelstichmethode nur nach ungemein gründlichen Studien und langjähriger Praxis möglich ist.

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Die besten Akupunkturärzte hingegen sind Überzeugt, daß eine erfolgreiche und vor allem völlig gefahrlose Anwendung dieser altchinesischen Nadelstichmethode nur nach ungemein gründlichen Studien und langjähriger Praxis möglich ist.

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Sensationelle Berichte über erfolgreiche Heilungen durch die Akupunktur führen jetzt auch in Europa zu einem Ansturm auf die Ordinationen der Akupunkturärzte. In einigen Ländern ist dieser Ansturm schon so groß, daß sich manche Patienten schon zwei Monate vorher für Behandlungen vormerken lassen müssen.

Fürst Klemens Metternich: Weltmeister im „Gleichgewicht“

herigen Geschichte die Konterrevolution immer nur zu einer viel gründlicheren, blutigeren Revolution geführt. Aber was tut das? Am Ende ist doch alles sich gleich geblieben, und Despotismus bleibt Despotismus.“

Henry A. Kissinger, einer der profiliertesten Präsidentenberater und Geheimdiplomat der USA, analysierte und rezipierte in seinem 1972 als Taschenbuch erschienenen Geschichtswerk „Großmacht Diplomatie“ die Staatskunst Metternichs. Als Gesprächspartner von Metternich dürfen wir Kissinger mit Fug und Recht anerkennen. Daher der nun folgende Versuch, je einen Ausspruch von beiden Diplomaten dialogisch gegen den anderen zu setzen.

Kissinger: „ ... Zwar wird jeder Krieg stets im Namen des Friedens geführt, doch besteht oft die Tendenz, Frieden mit dem Fehlen des Krieges gleichzusetzen und ihn mit militärischem Sieg zu verwechseln. Wenn man die Voraussetzungen des Friedens im Krieg erörtert, wirkt das fast unwürdig, so als ob das Eingeständnis, daß der Krieg eines Tages enden wird, eine Schwächung der Kriegsanstrengungen verursachen könnte...“

Metternich: „ ... Friedensschlüsse waren immer nur Waffenstillstände ... Das soziale Element ruht auf Grundlagen, welche keiner Kapitulation fähig sind ... Wir haben nur eine Richtung festzuhalten: diese Richtung ist die politische, und zwar das Entfernthalten eines europäiEiner der prominentesten europäischen Akupunkturärzte, J. R. Wors-ley, sagte: „Ich praktiziere die Akupunktur seit 27 Jahren, aber ich betrachte mich immer noch als Schüler. Um diese Nadelmethode wirklich gründlich zu kennen, müßte man ein ganzes Leben lang lernen und praktizieren, und man würde dann noch fühlen, daß ein weiteres Leben nötig ist, um an die Weisheit der Schöpfer dieser Methode näher heranzukommen.“

So wird von oberflächlich arbeitenden Akupunkteuren oft die Tatsache übersehen, daß eine echte Nadelstichbehandlung in manchen Fällen den Tagesrhythmus, und in Ausnahmefällen sogar den Jahresrhythmus berücksichtigen muß. Nach Angaben ernstzunehmender chinesischer Akupunkturärzte sollen Nadelbehandlungen von Herzleiden erst im späten Tagesverlauf, solche von Lungenkrankheiten aber in den frühesten Morgenstunden vorgenommen werden. Aber auch andere, von weniger versierten Heilern unberücksichtigte Faktoren spielen eine Rolle.

So glauben manche Akupunkturärzte festgestellt zu haben, daß auch geringe Feuchtigkeitsunterschiede in den Fingern des Heilers die Aussichten auf Heilerfolge beeinflussen. Auch sollen einige der für asiatische Patienten geeigneten Einstichstellen nicht immer genau den für nichtasiatische Patienten zu wählenden entsprechen.

Der Verfasser dieses Artikels, der sich jahrelang dem Studium der tibetanischen Heilkunde (die einen Teil ihrer Unterlagen aus der altchinesischen übernahm) gewidmet hat, konnte feststellen, daß die Akupunktur von tibetanischen Heilkundigen nur selten angewendet wird, vielleicht, weil sie glauben, daß sie an die Weisheit des Heilers zu hohe Anforderungen stellt. Dagegen praktizieren sie nicht selten die Moxa oder Moxibustion (das Verbrennen von artemisia vulgaris) über Körperstellen, die zum Teil den Akupunktur-Einstichstellen der altchinesischen Heilkunde entsprechen.

Prominente Gelehrte in westlichen Ländern haben versucht, im Rahmen unseres westlichen medizinischen Weltbildes den Wirkungsmechanismus der Akupunktur zu ergründen. Befragt man maßgebliche fernöstliche Gelehrte nach ihrer Meinung über die diesbezüglich aufgestellten Theorien, so deuten sie an, daß die Akupunktur in einem „anderen Energiebereich“ wirke, etwa im Sinne einer bereits in westlichen Ländern geäußerten Vermutung, daß es „außer den im Westen bekannten Energieformen auch zusätzliche geben könnte, die im Rahmen des Lebendigen vielleicht eine noch größere Rolle spielen könnten, als die uns bereits bekannten.“ Die fernöstliche Medizin nimmt an, daß ein sogenannter „Doppelkörper“ oder ein „vitalätherisches Kraftfeld“ den dichten Menschenleib durchdringt und belebt. Es sei von einem Netz unsichtbarer „Kanäle“ durchzogen, in denen die eigentliche „Lebenskraft“ zirkuliere. Durch die Beeinflussung dieses Kreislaufes könne man gewisse Krankheiten heilen.

In jüngster Zeit wurden solche Fragen aktuell, als die Behauptung der sowjetischen Forscher Semyon und Valentina Kirlian bekannt wurden, daß es ihnen gelungen sei, mit neuartigen Apparaturen diesen „Doppelkörper“ zu photographieren. Eine Anzahl amerikanischer Forscher bereiste dann die Sowjetunion und konnte nach ihrer Rückkehr in die USA auf Grund in der Sowjetunion veröffentlichter schematischer Darstellungen ähnliche Apparaturen konstruieren, die die Existenz dieses von sowjetischen Gelehrten „bio-plasma“ genannten Doppelkörpers zunächst glaubhaft machten. Der erstaunlichste Teil der Berichte ist wohl die Mitteilung, daß nach dem Wegschneiden eines kleinen Teiles eines Baumblattes (zwischen zwei und zehn Prozent seiner Größe) auf einer nachher aufgenommenen Kir-lian-Photographie die feinstoffliche Entsprechung des weggeschnittenen Teiles des Blattes noch immer zu sehen ist, gerade so, als wäre das „Phantom“ des ganzen Blattes auch nach der Amputation eines Teiles desselben noch völlig intakt. Amerikanische Forscher und Techniker, die auf Grund sowjetischer Veröffentlichungen in den USA den Kirlian-Apparaturen ähnliche Einrichtungen konstruierten, konnten nicht wenige Ergebnisse der Kirlian-Photographie in den USA nachprüfen und bestätigen, nicht aber die Behauptung, daß es gelinge, das obenerwähnte „Phantom“ mitzuphotographieren. So bleibt also gerade der wichtigste Teil der Angaben über die Kirlian-Photographie noch unbestätigt. Wenn aber — wie es fernöstliche Gelehrte andeuten — die Akupunktur sich tatsächlich in einem „Doppelkörper“ auswirkt, so wäre es verständlich, daß keine der nun den dichtstofflichen Leib des Menschen in Betracht ziehenden Theorien die Wirkungsweise des altchinesischen Nadelstichmethode zufriedenstellend erklärt.

In praktischer Hinsicht bereitet den echten Akupunkturärzten das durch die Sensationsmeldungen der letzten Zeit geförderte ungemein starke Interesse für die altchinesische Nadelstichmethode nicht nur Genugtuung über die weltweite Anerkennung der Akupunktur, sondern auch ernste Besorgnis. Sie sind nämlich überzeugt, daß die Akupunktur in den Händen wirklich Berufener nützlich ist, daß aber ihre Anwendung durch unzulänglich geschulte und oberflächlich und „mechanisch“ zu Werk gehende Personen nur schädlich sein kann.

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