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Die Kreuzspinne Europas

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Neuerdings hat das Prahlen mit der Weltgeschichte auch dort Anhänger gefunden, wo man sonst eher Zurückhaltung gewohnt war, bei diplomatischen Anlässen hauptsächlich. Der amerikanische Präsident Nixon, tief verwurzelt im Wesen der Wanderpredigt und de? Missionierens kleiner Leute, in Mimik und Gestik durchaus der ehrbare kleine Mann, hat in Henry Kissinger seinen Friedrich Gentz gefunden, ohne selber ein Metternich zu sein. Vielleicht wird er es noch.

Wer war Metternich? In einem anderen Buch von Harry Pross, erschienen im Jahre 1971, mit dem Titel „Söhne der Kassandra“, stehen folgende Sätze: „Denn es bleibt eine ewige Wahrheit, daß nicht das Ubergewicht der Menge, nicht die rohe Gewalt der Massen, sondern das Übergewicht des Geistes und die organisierte Gewalt die Welt regieren. Friedrich Gentz, der dies 1832 schrieb, fand seinen Biographen in Golo Mann.“ Karl Marx beschwört 1849 ebenfalls die Kassandra-Stim-men. Er schrieb damals in der „Neuen Rheinischen Zeitung“: „Trauriges Resultat der Revolutionen, wehmütige Folge davon, daß die Völker nie auf die Stimmen verkannter Kassandren hören wollen! Am Ende ist alles sich gleich geblieben! Die Metternichsche traditio-nell-überkommene Regierung ist zwar in manchen Stücken verschieden von der jetzigen konterrevolutionären Militärherrschaft, und namentlich ist das gemütliche österreichische Volk aus den Zeiten Metternichs ein ganz anderes Volk als das jetzige revolutionäre, zähneknirschende Volk, auch hat in der bisschen Krieges aus orientalischen Ursachen ... doch es hat auch jeder Staat außer seinen Sonderinteressen auch solche, die ihm mit anderen Staaten gemein sind ...“

Kissinger: „ ... Das Ausmaß des Sieges der Verbündeten von 1814 machte deutlich, daß Metternich sich verrechnet hatte. Er hatte darauf gebaut, daß man Napoleon nur durch eine Koalition von psychologischem und militärischem Druck zur Vernunft bringen könnte, durch einen Krieg, der im Namen des Friedens geführt, und einen Frieden, der unter der Drohung des Krieges offeriert wurde...“

Wer war Metternich? Weltmeister im „Gleichgewicht“? Die Welt hat nach ihm ihren Meister und das Gleichgewicht verloren. Seine diplomatische Toleranz gegenüber Napoleon verrät uns die Seriosität, mit der er gegen den damaligen Anach-ronimus Frankreichs und aller anderen europäischen Staaten auftrat. Seine Siege sollten nicht Wunden schlagen, sondern Ausgangspunkte für weitere Beziehungen werden. Er betrieb die Politik als Wissenschaft und die Diplomatie als Kunst. Das wirkliche Wesen seines Erfolges als Vormund Europas, von Moskau über Wien nach Paris, war das Hinauszögern des unvermeidlich kommenden „Tages der Erkenntnis“ über das vielzitierte .„Metternichsche System“, die Individualisierung einer. Idee, sagt Metternich selbst:. „Es führt stets zum falschen Schluß, als könne eine Induvidualität die Sache, welche die erstere vertritt, sein, eine von Haus aus schiefe Ansicht, denn dort, wo sie tatsächlich anwendbar ist, bedingt sie das Nichtbestehen der Sache und eines für dieselbe geltenden Scheines.“ War Metternich wirklich Restaurator einer gesellschaftlichen Ordnung? Wie sagt er selbst? „Ich weiß nicht, was die nächste Zeit bringen wird; so viel ist sicher, daß die laufende unter der Last eines chaotischen Zustandes erliegt ... Die gesellschaftliche Ordnung hat ihre Gesetze wie die Natur und wie der Mensch. Den alten Institutionen ergeht es wie den Greisen, sie werden nie wieder jung ... Immer und immer geht die soziale Ordnung diesen Weg, und es kann nicht anders sein, da es Naturgesetz ist ... Die moralische Welt hat ihre Stürme wie die materielle Welt ... Die Welt bedeckt sich nicht mit Trümmern, ohne daß sie die Menschen zermalmen.“ Golo Mann, der Biograph von Friedrich Gentz, schreibt in einem Essay aus dem Jahre 1959 über Metternich: „Gelegentlich gestand er zwei Wahrheiten ein, die monarchisch-alte und die demokratischneue, und bestritt nur Wahrheit und Möglichkeit der Mitte. Häufiger setzte er Demokratie mit Chaos gleich ...“ Über die Staatsbesoldungen in England schrieb Metternich 1850: „Das Parlament ist heute mit der Bestimmung eines billigen Ausmaßes der Staatsbesoldungen beschäftigt ... Im Sinne der Demokratie liegt die Vielheit der Plätze und die schlechte Bezahlung.“

„Metternich war nur Europäer, und zwar nicht in einem europo-zentrischen, imperialistischen Sinn, so daß er ,Europa' und die ,Welf gleichgesetzt hätte, sondern in dem bescheideneren, älteren, daß er sein Interesse auf die europäische Halbinsel beschränkte, die er für Weltherrschaft nicht tauglich hielt.“ Soweit Golo Mann. In den „Grundsätzen der Realpolitik“ von Ludwig August von Rochau, geschrieben 1869, finden sich die folgenden Schlußsätze: „ ... Aus dem Verlaufe, welchen die Geschicke Österreichs seit 20 Jahren genommen haben, möge hier schließlich eine Nutzanwendung gezogen werden, die nicht nach jedermanns Geschmack sein

wird, deren Richtigkeit aber darum nicht weniger feststeht — die Lehre nämlich, daß Metternichs österreichische Politik, im großen und ganzen genommen, durch den .Beweis vom Gegenteil' ihre nachträgliche Rechtfertigung gefunden hat...“ Aus diesen Worten eines liberalen Theoretikers über einen konservativen Praktiker sollte man die Aufforderung heraushören, das angeschlagene Gedächtnis an Metternich aufzufrischen.

Friedrich Schlegel widmete dem Fürsten Metternich an dessen Namenstag, dem 23. November 1827, ein Gedicht, aus dem hier die 9. Strophe zitiert sei:

„Meister an dem Steuer in der Wendung,

Faßtest du sogleich den Augenblick.

In dem Wechsel liegt der Kunst Vollendung,

Auf dem Punkt beruht das Ziel der Sendung.

Schnell kehrt solch ein Wendepunkt zurück.“

Metternich, Österreichs und Europas Steuermann, starb nach dem Wandel der Zeiten 1859 in Wien. Die ..Kreuzspinne der Heiligen Allianz“ (das Wort stammt von Karl Marx) sitzt jedoch immer noch, und heute mehr denn je, im Mittelpunkt der Begriffe Diplomatie und Politik.

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