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Der Sekretar Europas

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Im Jahre 1810 notierte Frau von Stael, am Abend des 18. Brumaire-(1799) habe sie bei der Nachricht von Bonapartes Staatsstreich eine Art von Beängstigung, von Atemnot befallen; diese habe sie seitdem nie verlassen und sie sei, wie sie fürchte, die Krankheit des Kontinents geworden. In ähnliche Befangenheit geriet schon früh der preußische Kriegsrat und Publizist Friedrich von Gentz, einst ein Bewunderer, dann einer der energischesten Gegner der Französischen Revolution. Er erkannte im jakobinischen wie im korsischen Imperialismus die gleich ernste Gefährdung der europäischen Existenz; beide Formen zu überwinden, galt sein publizistischer Auftrag. Erst im Dienst Englands und darnach, da er in dem schwachmütigen nachfriede-rizianischen Preußen keinen rechten Widerhall fand, im Dienste Österreichs, seiner eigentlichen Wahlheimat. Zwischen Stadion und Metternich wurde er zum Publizisten, ja zum Sekretär Europas, zum Protokollführer des Wiener Kongresses.

Auch in den Jahren des nur äußerlich so behaglichen Vormärz blieb seine Sorge um die wahre Solidarir tat Europas; ähnlich wie TocqueviUe warnte er vor den nivellierenden Formen jeder Formaldemokratie wie vor der „monolithischen“ Bedrohung des Kontinents durch Rußland, und erkannte früh die wachsende Bedeutung der jungen amerikanischen Union für seine sich wandelnde Welt. So besitzt sein Wort schon einige Aktualität, die ein kurzes Gedenken an seinem 200. Geburtstag durchaus rechtfertigt.

Der am 6. Mai 1764 in Breslau geborene Friedrich von Gentz verbrachte seine Jugend in dem in der friederizianischen Spätzeit ziemlich erstarrten Berlin als Sohn eines „bürokratischen“ Vaters und einer geistig angeregten Mutter aus der angesehenen Hugenottenfamilie der Ancillon. In Königsberg gehörte er zum engeren Schülerkreis Kants und begeisterte sich mit ihm für die Anfänge der Französischen Revolution. Wie viele ältere und jüngere Idealisten sah er in ihrer Entwicklung bis zum Konföderationsfest vom Juli 1790 die Voraussetzungen für Kants „Ewigen Frieden“ und ließ sich auch von den ersten gewaltsamen Ubergriffen noch nicht umstimmen. Als junger Beamter am Berliner Innenministerium las er Burkes „Betrachtungen zur Französischen Revolution“, kritisierte sie heftig, quälte sich mit ihrer Ubersetzung ab und — wurde ihr rückhaltloser Verteidiger. Gar bald entwickelte er sich zu einem vielbeachteten Publizisten und wagte die Herausgabe zweier eigener Organe, erst der „Neuen Deutschen Monatsschrift“ und darnach des „Historischen Journals“. Zu seinen Mitarbeitern gehörte auch sein Freund Wilhelm von Humboldt.

Die intrigante Kabinettspolitik der nächsten Jahre bestimmte Gentz dazu, sich langsam von Preußen zu distanzieren und seine ebenso kluge wie gewandte Feder in den Dienst Englands zu stellen. Im England des jüngeren Pitt sah er mit Recht die wirksamste Gegenfront wider den jakobinischen Terror wie gegen den immer spürbareren korsischen Zentralismus. Der ehemalige philosophische Tugendbündler wurde alsbald zum internationalen Agenten und bezog damit eine gefährliche Position, die vor ihm in Deutschland noch keiner innegehabt hatte. Ohne den Romantikern besonders nahezutreten, bewegte er sich dazu in dem erlesenen Kreis der Rahel Lewin, mit der ihn eine lebenslange, mehrfach unterbrochene, aber doch immer bewährte Freundschaft verbinden sollte. Vielleicht, daß er zwischen den romantischen Geschwisterpaaren zum eigensten politischen Engagement fand; sie boten ihm jedenfalls manch wertvolle historische Hilfen für seine Apologien. Als aber Pitt durch den bedächtigen Addington ersetzt wurde, der im Frieden von Amiens (1802) die französische Republik des Bürger-Konsuls anerkannte, mußte Gentz feststellen: „Wenn England Frankreichs Weltgegner ist, der kontinentale residiert in Wien.“ Fast intuitiv sah er voraus, daß der Friede zwischen den beiden Westmächten nicht von langer Dauer sein würde; er wollte den Bruch mit dem Kontinent abwarten und entschied sich nun für Österreich. Mit seiner Berufung nach Wien erhielt das Leben Gentz' seine entscheidende Wendung; hier und nur hier konnte er zum „Sekretär Europas“ werden.

Von Wien aus suchte Gentz Europa aus seiner Lethargie gegenüber der Willkürherrschaft Bonapartes aufzurufen, und dies in den Jahren der tragischen Selbstauflösung des Reiches zwischen 1803 und 1807. Seine Stellung war damals mehr als gefährdet; die Wiener Regierung mußte Seinen publizistischen Eifer wiederholt „calmieren“, während etwa die Brüder des Kaisers in schweigender Opposition zur Tagespolitik diesen Eifer möglichst zu fördern suchten. Nach der Katastrophe von Austerlitz mußte Gentz aus Wien verschwinden; er hielt sich in Breslau und Dresden auf, und hier in Dresden begegnete er dem um neun Jahre jüngeren Grafen Metternich.

Diese beiden bewußten Erben des Rokoko, denen jedes nationale Pathos verdächtig war, sahen ihr Ziel in einem organischen Zusammenwirken der europäischen Pentarchie um der Erneuerung des Kontinents willen. Deshalb mißtrauten sie auch anfangs Alexanders I. „Heiligem Krieg“, von dessen Gelingen sie eine neue Bedrohung aus dem Osten befürchteten. In einem „Memoire sur la Paix Maritime“ suchte Gentz erneut England an die Spitze einer Koalition zu bringen, und zwar jener Koalition, die er seit 15 Jahren publizistisch gefordert hatte und die nun — langsam — an der Wende von 1812 auf 1813 im Entstehen begriffen war. Und diese Koalition konnte nur das Ziel haben, Europa den Frieden zu bringen, weniger die Vernichtung Napoleons um jeden Preis; deshalb widerten ihn die patriotischen Haßgesänge der „Freiheitsdichter“ so sehr an, daß er noch nach Leipzig an Humboldt schrieb: „Ich habe gegen Bonaparte geschrieben, als es noch weit gefährlicher war als heute, und werde dies nun nicht mehr tun“; ja, er forderte, den Besiegten „mit Edelmut und Delica-tesse“ zu behandeln. Hier spürte man den lebendigen Kontakt mit Metternich, der Gentz zum Sekretär des Wiener Kongresses berief und ihn für die „Tagesordnung der Neugestaltung Europas verantwortlich machte“. Zusammen mit dem Fürsten-Staatskanzler begegnete er dem Reichspatriotismus Steins ebenso wie der drohenden Prävalenz der Ostmächte; er suchte das Anwachsen Rußlands ebenso einzugrenzen wie das „Hineinwachsen Preußens in den deutschen Raum“, dessen Folgen für eine neue Beunruhigung Europas er besonders klar erkannte.

In der Zeit des Vormärz verblieben ihm noch eineinhalb Jahrzehnte, in denen er die unnötigen Härten der Reaktion ebenso bekämpfte wie die nationalen Umtriebe von den Burschenschaften bis zu den Carbo-nari. Er begleitete, schon etwas müde geworden, Metternich auf die verschiedenen Kongresse und geriet allmählich in ein mehr theoretisches, innerlich distanziertes Verhältnis zur praktischen Politik und Diplomatie. Doch blieb er „das lebendige Band zwischen den fünf verschiedenen Kabinetten“ und erinnerte immer wieder an die europäische Sendung Österreichs, für das es eigentlich keine „Außenpolitik“ gab. „Eine Revolution im Königreich Neapel, Wirren auf dem Balkan, nationalistische Unruhe in Deutschland gingen Österreich unmittelbar an, denn es selbst war ein Stück Deutschland, ein Stück Balkan, ein Stück Italien.“

In seiner Privatsphäre hatte sich Gentz zeitlebens manchem Genuß hingegeben; hier legte er Wert darauf, wie Metternich, allen politischen Eifer mit einem sehr gründlichen „Savoir vivre“ in Einklang zu bringen. Seine Ehe mit einer braven, kleinen Hugenottin war bald in Brüche gegangen; seine Verbindungen „mit mancher Person niederen Standes“ waren meist glücklicher, weil flüchtiger und anspruchsloser, gewesen. Erst gegen Ende seines Lebens erfüllte sich seine Sehnsucht nach echter Liebe in reiner, erzieherisch sorgender Zärtlichkeit in der Verbindung mit der bekannten Wiener Tänzerin Fanny Elsler. In ihrem zarten Abendrot erlebte er noch mit wachsender Sorge die Julirevolution von 1830 mit all ihren Nachwirkungen, erlebte er den Tod Goethes, der ihn „bis ins Mark erschütterte“. Wenige Wochen darnach, am 9. Juni 1832, wurde er abberufen.

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