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Die Saiten der Emotion

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Ein Politiker denkt an die nächste Wahl; ein Staatsmann an die nächste Generation. Bruno Kreisky ist Politiker, ganz zweifellos einer der trickreichsten, die je in Österreich diese Profession ausübten. Es scheint, als hätte er ein geradezu untrügliches Gespür für Emotionen und Stimmungen in der Bevölkerung; er beherrscht die Gefühlswelt der Österreicher und lä^t sich von ihr bei seinen Handlungen leiten.

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Ein Politiker denkt an die nächste Wahl; ein Staatsmann an die nächste Generation. Bruno Kreisky ist Politiker, ganz zweifellos einer der trickreichsten, die je in Österreich diese Profession ausübten. Es scheint, als hätte er ein geradezu untrügliches Gespür für Emotionen und Stimmungen in der Bevölkerung; er beherrscht die Gefühlswelt der Österreicher und lä^t sich von ihr bei seinen Handlungen leiten.

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Am 21. Oktober finden in Wien und Oberösterreiich Landtagswählen statt. An diesem Tag sollten die Wiener und die Oberösterreicher ein Urteil über die Kommunal- und Landespolitik der letzten Legislaturperiode abgeben und über die Tauglichkeit von Persönlichkeiten und Konzepten für die nächsten fünf Jahre in Wien und die nächsten sechs Jahre in Oberösterreich befinden. Daneben wurden diese Wahlen von den Parteien und den gewerbsmäßigen Rezensenten ihres Bemühens zu „Testwahlen“ deklariert. Nach Schönau, während eines unvorstellbar blutigen Krieges im Nahen Osten nach dem teilweisen Zusammenbruch der Versorgung Österreichs mit wichtigen Rohstoffen — nach all dem wissen wir eines: so oder so — am 21. Oktober entscheiden in Wien und Oberösterreich 40 Prozent der österreichischen Wähler darüber, ob es klug ist, auf den Saiten der Emotionen zu zupfen oder nicht.

Hier ein Löwe und ein Hahn, dort ein Friedl und ein Gratz, ihre Fähigkeiten zur Führung einer Stadt beziehungsweise eines hochindustrialisierten Landes stehen längst nicht mehr zur Diskussion. Alles dreht und bewegt sich um den politischen

Hauptartisten Bruno Kreisky, den Lebensretter mit. der schlechten internationalen Nachrede — 79 oder 58 Prozent (je nach Herkunft und Qualität der Meinungsumfrage) lobpreisen ihn: ein Volk, ein Österreich steht zu seinem Führer.

Weiß Gott, in diesem Land gibt es eine Unzahl ungelöster Probleme: die Konjunkturbarometernadel pendelt wild; nie — sieht man von den dreißiger Jahren ab — war die Inflationsrate höher; die Landesverteidigung ist eine unfromme Lüge; acht Tage Krise und die Bevorratung bricht zusammen; unsere internationale Reputation ist dahin; ein Verteidigungsminister benimmt sich, wie sich nur Antisemiten benehmen. Uns aber scheint das alles nicht zu rühren! Wo andernorts Regierungen zurücktreten müßten, faßt unsere neue Hoffnungen fürs Wahlglück. Verkehrtes Österreich?

Nicht doch: armes, müdes Österreich! Und dieses müde Österreich berechtigt zu größtem Pessimismus für seine Zukunft.

In einer solchen Situation von Testwahlen zu sprechen, bloß weil 40 Prozent der Wähler in Österreich zur Stimmabgabe aufgefordert werden, ist unlogisch. Denn alles, was die Wahlen in Wien und Oberöster-

reich hätte auszeichnen können, die Prüfung der kommunal- und landespolitischen Arbeit in der Vergangenheit und verwirklichbare Konzepte für die Zukunft durch sachengagierte Wähler ist aus der Reichweite entschwunden. In Wien und Oberösterreich verklärt eine Gruppe von Politikern den Führerstil Bruno Kreiskys, während die andere Gruppe mit Seitenblick auf Meinungsumfragen von Staatsraison und anderen in Österreich offenbar längst vergessenen Dingen erzählt. Sozialistische Parteifunktionäre erzählen in der Bundeshauptstadt und in Oberösterreich ganz ungeniert, daß Karl Schleinzer den Schießbefehl auf Geiseln gegeben hätte, daß er kein Patriot sein könne, daß aller Patriotismus dieses Österreich dort stecke, wo auch der Bundeskanzler sein Herz habe.

In dieser ganz und gar blamablen Situation zelebriert Österreich in zwei seiner Bundesländer Testwahlen. Haben sie keine andere Funktion, als eine lange Reihe politischer Irrtümer als heilige Prinzipien zu deklarieren?

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