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Friedells Aktualitat

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Er hieß Egon Friedmann und galt mehr als Wiener Original denn als Mensch mit einem richtigen Beruf. Er war Schauspieler und Schriftsteller; welche Tätigkeit im Vordergrund stand, war zu Lebzeiten schwer festzustellen. Er hatte viele bedeutende Freunde, Reinhardt, Loos, Altenberg — seine eigene Bedeutung war vor seinem Tod nur für wenige erkennbar. Als 1938 SA-Männer ihn abholen wollten, sprang er aus dem Fenster seines Wohnhauses — nicht, ohne vorher einen unten vorbeigehenden Passanten zu warnen.

Ist die Neuauflage seines wichtigsten Buches ein Ereignis, das es angesichts der Taschenbuch-Neuauflagen-Schwemme verdient, festgehalten zu werden? Immerhin: So billig und damit für viele Menschen zugänglich war die „Kulturgeschichte der Neuzeit“ von Egon Friedmann, der sich Egon Friedell nannte, noch nie. Auch wird die Bedeutung österreichischer Autoren in der deutschen Literatur

erst so richtig deutlich, wenn man neben der Rolle lebender Österreicher in der bundesrepublikanischen Szene die Neuauflagen verstorbener Österreicher vor allem auf dem Taschenbuchmarkt zur Kenntnis nimmt. Um nur wenige Beispiele der letzten Zeit zu nennen: Broch bei Suhrkamp, Doderers „Strudlhof-stiege“ als 900-Seiten-Paperback bei dtv, und nun, ebenfalls im Deutschen Taschenbuchverlag, die „Kulturgeschichte der Neuzeit“ in zwei Bänden (dtv 1168/1169, zusammen 1572 Seiten, 197.20 Schilling).

Friedell war einer der letzten Privatgelehrten — wenn man in einem solchen nicht den Gegensatz des beamteten Forschers, sondern des Revolutionärs erblickt. Er war alles andere als ein Weltveränderer, und er hatte es auch nicht mit den Massen. Er war, was heute verboten ist: elitär. Seine „Neuzeit“ dürfte von allen neueren Werken über die Neuzeit das am konsequentesten von einem elitären Standpunkt geschriebene sein. Sie ist denn auch voll von Ärgernissen, wimmelt von Steinen des Anstoßes. Aber sie ist auch eben deshalb so aktuell — die Konjunktur der ehernen Gesetze ist vorbei, der Faktor Persönlichkeit bei der Interpretation der Geschichte wieder erlaubt.

Friedell ist nicht nur elitär, er ist auch der konsequenteste Subjektivist der neueren Geschichtsschreibung. Folgerichtig schrieb der Besitzer eines legendären Zettelkastens, der ein viel zurückgezogeneres Leben führte, als seine Stellung in der Kaf-feehausgesellsdhaft der Zwischenkriegszeit vermuten ließe, und ganze Tage damit verbrachte, auf der Couch liegend die 3000 Bände seiner Privatbibliothek mit Randbemerkungen vollzukritzeln, ein Werk, dessen Qualität vor allem in der Herausforderung und in der Anregung durch eine Fülle glänzender Formulierungen, blitzartiger Einsichten und provokant vorgetragener Theoreme liegt. In dieser Beziehung ist die „Kulturgeschichte der Neuzeit“ absolut unüberbietbar.

Friedell erwartete sich vom Fortschritt nicht viel, und das wenige nicht vom Sozialismus, sondern von der Vermittlung eines „schwachen Lichtschimmers von der anderen Seite“ durch Psychologie und Physik. Alles Denken war ihm zunehmende Klärung und Vertiefung in der ewigen Wiederholung. Dabei sah er in Rußland wie in Amerika „dieselbe Anbetung der Technik und Verachtung der Ideologie“. Die erste Nach-kriegs-Neuauflage seines Werkes wurde zum Sachbucherfolg des Jahres 1960. Nach dem großen Verramschen der „linken Theorie“ ist die Zeit wohl wieder reif für ihn.

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