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Ein genialer Dilettant

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Erinnerungsvermögen wird klein geschrieben in dieser Zeit. Zu rasch fällt der Vergessenheit anheim, was immer noch in Spuren lebendig ist. Nicht bloß an beziehungsvollen Geburts- und Todestagen soll jener gedacht werden, deren Leben und Werk mehr als einer Erinnerung wert ist. Wir beginnen unsere zwanglose Folge mit Egon Friedell.

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Erinnerungsvermögen wird klein geschrieben in dieser Zeit. Zu rasch fällt der Vergessenheit anheim, was immer noch in Spuren lebendig ist. Nicht bloß an beziehungsvollen Geburts- und Todestagen soll jener gedacht werden, deren Leben und Werk mehr als einer Erinnerung wert ist. Wir beginnen unsere zwanglose Folge mit Egon Friedell.

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„Nur Naive können glauben, daß die Entbindung der intraatomischen Energie die Lösung der sozialen Frage bedeuten würde. Durch die Aktivierung der Atome würden bloß die Oberen noch gieriger, die Unteren noch ärmer und die Kriege noch bestialischer. Zur Lösung der sozialen Frage bedarf es einer moralischen Atomzertrümmerung.“

Diese erstaunliche, auf den Zustand unserer Welt fast schlagend zutreffende Randbemerkung steht in einer Kulturgeschichte der Neuzeit, geschrieben vor nahezu einem halben Jahrhundert von dem Feuilleto-nisten, Essayisten, Kabarettisten, Dramatiker und Schauspieler der Reinhardt-Bühnen Egon Friedell. „In meinen Adern fließen Samt und Seide“, pflegte er zu sagen, wenn er auf seine Herkunft zu sprechen kam. Er war 1878 in einem Haus der Ma-riahilferstraße als Sohn des Tuchfabrikanten Moriz Friedmann geboren. Der Vater starb, nachdem ihn die Frau verlassen hatte, wenige Jahre später, ältlich, kränklich, in Verzweiflung. Von frühauf ohne Eltern, hatte Friedell bald gelernt, allein zu sein. Er war kein gerade überragender Schüler, auch in Geschichte nicht. In Wien und Heidelberg studierte er Philosophie und Germanistik. Seine Doktorarbeit über den „Panmagis-mus des Dichters Novalis“ weist auf eine Vorliebe für die Romantik und eine hohe Meinung vom Dichter als Gesetzgeber und Weltordner.

Die Doktorarbeit trug bereits den Namen „Friedell“, ein Name, der kein Pseudonym, sondern ein Programm sein sollte. Die Endung -eil war dem Namen eines gräflichen Studienfreundes (Castell-Rüdenhau-sen) entliehen, klang ein wenig nach Adel und sollte Friedell zugleich seine zufallsbedingte und — wie er fand — nicht gerade glückliche Herkunft vergessen lassen. Der Verfasser einer eher esoterischen Arbeit über Novalis ging den denkbar ungewöhnlichsten Weg, nämlich: zum Kabarett, wo er als Komiker, Improvisator und Blitzdichter auftrat. Hinter seinem Namen im Programm durfte der „Doktor der Philosophie“ nicht fehlen.

Seine Auftritte im Kabarett, wo er sich in wohlvorbereiteter Stegreifmanier bewährte, regten ihn auch zu seinen literarischen Vorträgen an, wobei er zwischen den beiden meist keinen Unterschied machte. Selbst Karl Kraus rühmte die „Perspektive“ und die Kunst der „Lebensbeobachtung“ in Friedells Arbeiten und stellte ihn hoch über die Masse der „Wieher Feuilletonisten“ und „Sonntagshumoristen“. Dem „unbekannten Nestroy“, den Friedell eine „shake-spearisch ringende Seele“, einen „Kasperl mit einem kantisch analysierenden Geist“ nannte, widmete er einen brillanten Essay. Im Kabarett „Fledermaus“ lernte Friedell den Wiener Kritiker und Feuilletonisten Alfred Polgar kennen. Beide spürten die geistige Verwandtschaft, wurden Freunde und verfaßten gemeinsam Grotesken und Parodien mit Hauptrollen für Friedell. Die bekannteste war „Goethe im Examen“. Den größten Erfolg aber heimste Friedell mit seinen Anekdoten über Peter Altenberg ein. Er mußte sie im Laufe seines Lebens einige hundertmal zum besten geben. Selbst wenn er in Vorträgen über Shaw oder Shakespeare sprach, verlangte das Publikum am Ende als Zugabe eine Altenberg-Anekdote, i

Max Reinhardt sah Friedell auf der Bühne und nahm ihn in sein Ensemble als „originellen Dilettanten“ auf. Viele Jahre gehörte Friedell den Reinhardt-Bühnen an, erst in Berlin, später in Wien an Reinhardts „Theater in der Josefstadt“ und auch bei den Festspielen in Salzburg. — 1914 verherrlichte Friedell die Mobilisierung alier „moralischen, intellektuellen und physischen Kräfte“ durch den Krieg als die notwendige Verteidigung der Kultur. Seine Begeisterung für den Krieg in Pamphleten und Vorträgen wich freilich bald einer Nüchternheit und Enttäuschung, gefolgt von beschämtem Schweigen. Inmitten der allgemeinen Kriegsbegeisterung schrieb er sein einziges Drama: Die Judastrajiö'die — über die Blindheit jener,,die sich Realisten nennen. Sie . wurde erst Jahre nach dem Krieg achtmal am Burgtheater aufgeführt, wobei jedesmal 46 Schauspieler mitwirkten. Ein Teil der Kritik wertete das Stück als „Pappendeckeltheater“ und „Plauscherlrevue“. Für das gebildete Wien blieb Friedell weiterhin der amüsante Witzbold, der, wie all die Jahre vorher, vor Kaffeehaus- und Kabarettpublikum, vor Theater- und Lesepublikum sein „geistiges Schauturnen“ vollführte.

Was aber niemand geahnt hatte: Der ein leichtsinniges Bohemeleben zu bevorzugen schien, den so mancher nur für einen überspannten, verschrobenen Nichtstuer hielt, entpuppte sich als gewissenhafter Privatgelehrter, der mit pedantischem Ordnungssinn, mit Arbeitseifer und strengster Tageseinteilung ein überaus geregeltes Leben führte. Zurückgezogen in seine Währinger Wohnung mit einer Bibliothek von fast 3000 Bänden, hatte er eine Unzahl von historischen und philosophischen Büchern gelesen und mit Randbemerkungen versehen. Im Verlauf von drei Jahrzehnten war so das große Werk seines Lebens entstanden. Der Untertitel der dreibändigen, 600 Seiten umfassenden Kulturgeschichte der Neuzeit heißt: Die Krise der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Weltkrieg.

Für Friedell war alle Geschichte Kulturgeschichte, in der jede sichtbare Tat einer unsichtbaren geistigen Tat folgte. Sie war ihm nicht Wissen um Vergangenes, sondern Leben. Er versuchte als Künstler in die Geschichte einzudringen, die inneren und äußeren Zusammenhänge aufzudecken, damit in ihnen die jeweilige Idee des Zeitalters, dessen „Seele“ erkennbar wird. Geschichte war für ihn ein „seelischer Prozeß“. Im Menschen sah er Ursache und Wirkung der Geschichte. Der Seele widerfuhr Geschichte. Von daher verbanden sich ihm die einzelnen Ereignisse innerhalb einer Kulturepoche. Er schilderte das Kollektivbewußtsein eines Zeitalters wie den Seelenzustand eines Individuums.

Friedell entdeckte zwei Elemente in der Geschichte: den Zeitgeist mit seinen unerklärlichen Energien und das Genie mit seiner undurchschaubaren Wirkung. Er faßte die Weltgeschichte als eine „große Porträtgalerie“ auf, worin die Religionsstifter, Dichter, Philosophen die vordersten Ränge einnahmen; alle anderen Weltenlenker: Könige, Feldherren, Geldmagnaten mußten sich mit den rückwärtigen Plätzen begnügen.

Von Spengler übernahm Friedell die Idee, daß die Menschheitsgeschichte in geschlossenen Zyklen verlaufe. Als eine solche geschlossene Einheit sah er in seiner „Kulturgeschichte“ die sechs Jahnhunderte, die er „Neuzeit“ nannte. Ihr Beginn war in das Jahr des Ausbruchs der Schwarzen Pest, 1348, verlegt, die eine seelische Erschütterung ohnegleichen ausgelöst hatte. Weit über hundert Jahre, bis etwa 1500, brauchte der europäische Mensch, um diese große Krankheit zu überwinden. Dann entdeckte er sich als denkendes Wesen, und die gesamte Geschichte der Neuzeit ist nun nichts anderes als die Welteroberung durch den menschlichen Verstand. Nach Friedell führte dieser Einbruch zur Errichtung einer wahren Verstandesdespotie; sie machte die Weit zu einer „menschgewordenen Rationalität“. Als Grundidee des Werkes ergibt sich: „Der fortschreitende Prozeß der Steigerung und Übersteigerung des rationalistischen Prinzips“ — von der Renaissance bis ziu seinem Zusammenbruch im Weltkrieg.

Auch als Geschichtsschreiber verleugnete Friedell den Theatermenschen in sich nicht. Da er Kulturgeschichte als großartiges Weltspektakel im großen wie im kleinen erlebte, brachte er, wie auf der Bühne, nur Verdichtetes, Gesteigertes, Konzentriertes. Darum die überragende Rolle der Anekdote in seinem Hauptwerk. Friedells Kulturgeschichte ist anekdotisch und sprunghaft. So manche Schlacht bleibt un-geschildert, aber nicht die Farbe der Wämser; mancher unentbehrliche Name fehlt, aber er geht nicht ab: das Bild ist trotzdem vollständig. Eine optische Wirkung, ein Reiz des Bildlichen, Szenischen, des impressionistischen Augenfälligen geht von diesem titanischen Feuilletonismus aus.

Das deutsche Original der Kulturgeschichte der Neuzeit war Max Reinhardt gewidmet, die englische Ausgabe Bernard Shaw. Der 1936 erschienene erste (großartige) Band der Kulturgeschichte des Altertums — Leben und Legende der vorchristlichen Seele trug die Widmung: Für Knut Hamsun. Der dankte mit den Worten: „Die Widmung Ihres Buches ehrt mich mehr als der Nobelpreis.“ Im Jänner 1938 feierte Friedell seinen 60. Geburtstag. Er ließ sich ehren und unterbrach die Arbeit am zweiten Band der „Kulturgeschichte des Altertums“ (sie ist erst 1949 aus seinem Nachlaß als Kulturgeschichte Griechenlands erschienen).

Anfangs glaubte Friedell, man werde im nationalsozialistisch gewordenen Deutschland seine jüdische Abstammung tolerieren und seinen Büchern Verständnis entgegenbringen. Allmählich aber verfolgte er die Vorgänge drüben mit entschiedener Ablehnung und Sorge; auch seine Bücher waren inzwischen verboten worden. Am 16. März 1938 betraten SA-Männer sein Haus. Als Friedell seinen Namen nennen hörte, ging er ans Fenster, warnte vorher noch Passanten unter seinem Fenster und stürzte sich hinunter. Er war auf der Stelle tot und fast ohne äußere Verletzungen geblieben.

Alfred Polgar sagte in seinem Nachruf auf Friedell und sein Werk: „Nichts in diesem ebenso fesselnden wie irritierenden, an Witz und Einfall reichen Buch ist unzeitgemäß — es sei denn die gelassene Heiterkeit des Geistes, der sich in ihm spiegelt.“

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