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György Sebestyen über die Kritik

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Jeder Theaterabend ist ein Ereignis der Gemeinschaft, in der er stattfindet; er hat ganz bestimmte Strahlungen nach außen und wirkt auch nach innen, und zwar nicht nur als Abenteuer der Emotionen und als Impuls von Gedanken, sondern auch als kultischer Akt, in dem das Kollektiv aus den vielen Formationen der Bewußtheit ganz

bestimmte Erkenntnisse, Erlösungsversuche und Parolen in einem • gemeinsamen, lebendigen Prozeß auswählt, verdichtet und ritualisiert. Darin besteht ja der tiefgreifende Demokratismus jeder - wirklich jeder -öffentlich zugänglichen Theatervorstellung: hier wird auf Grund einer dialogischen Vorlage Meinungsfindung betrieben, die Zuschauer wählen sich Leitbilder, erwärmen sich für Situationen, enttabuisieren bisher verbotene sprachliche Konventionen und einigen sich auf die Tabuisierung verbrauchter Floskeln, bringen ihre Religion, ihren Glauben an die abstrakte allegorische Bedeutung des konkreten Spektakels zum Ausdruck, kurz, sie haben Anteil an einem Akt der kollektiven Besinnung. Versunkene archetypische Figuren und Konflikte und die vorerst schemenhaften Hoffnungen der spannungsgeladenen Gegenwart dringen ins Bewußtsein. Das Theater ist eine Stätte kollektiven Träumens.

Aus diesem Grund konnte und kann ich nicht die Theaterleute verstehen, die den Versuch unternehmen, prinzipiell und andauernd, gegen oder gar ohne das Publikum Theater zu spielen. Eine solche Haltung ist nicht nur theaterfremd, undemokratisch und an sich töricht, sondern sie kann nur das Ergebnis einer an Wahnsinn grenzenden Einbildung sein: der Einbildung nämlich, die eine Gruppe (im Theater) sei im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit und hätte die missionarische Pflicht, jene andere Gruppe (außerhalb des Theaters) aufzuklären und gewaltsam zu beglücken...

Sie kann sich, so scheint es mir, auf eine einzige Verbündete verlassen, allerdings nicht ganz ohne Aussicht auf Erfolg. Diese Verbündete ist die Feigheit mancher Zuschauer. „Diese Lenkbarkeit, gegenüber welcher das: Es gefallt mir, oder es gefällt mir nicht, keinen Grund ausmacht, ist, was ich die Feigheit des deutschen Publikums genannt habe“, notiert Franz Grillpar-zer. Und weiter: „Ein feiges Publikum aber erzeugt notwendig eine unverschämte Literatur.“

Der „Kunstrichter“ ist also, so meine

ich, ein Verbündeter des Publikums nicht nur, weil er auch zu den Zuschauern gehört, sondern auch, weil er an der gemeinsamen Willensbildung des Abends als einer von vielen mitbeteiligt ist und also das zeitlich begrenzte Partikelchen der Kulturgeschichte mit einiger Bewußtheit vertritt. Das aber heißt, daß er gar nicht in der Lage sein kann, den historischen Blickpunkt aus den Augen zu verlieren: er ist nämlich eine Figur dieser gleichen ununterbrechbaren Geschichte ...

In den Gesellschaften, in denen die Meinungsbildung, wenigstens dem Prinzip nach, in der zwar nicht sehr innerlichen, dafür aber kräftigen, ja rohen, anarchisch ausgerichteten Manier eines Marktplatzes vor sich gehen soll, kann der Wettstreit zwischen den Ansichten einigermaßen freie Formen haben, obgleich zwei Haltungen einen, wenn man so sagen darf, natürlichen Startvorteil genießen, und zwar: das absolut Gewohnte und das verblüffend Ungewohnte - um von der Wertigkeit nun einmal abzusehen. Andere Gesellschaften halten es für richtiger, das Positive durch Dekrete der Obrigkeit zu bestimmen...

Wenn wir von dieser für das Denken zwar tödlichen, jedoch immerhin sehr bequemen Lösung absehen, muß der Kritiker seine kulturhistorischen Kriterien selber wählen oder besser gesagt: Er wird versuchen, den Theaterabend in sein eigenes Geschichtsbild und Weltbild einzufügen, auf diese Weise - ein Abenteurer ewig auf Entdeckungsreise - seinen eigenen Standort und den geistigen Platz des Schauspiels gewissermaßen mit dem Blick auf den Sternenhimmel bestimmend ...

Ist aber jedes Theater, das sich fortschrittlich nennt, wirklich progressiv? Keineswegs. Und hier beginnt das Dilemma, das wenigstens in seinen groben Zügen zu skizzieren ist. Der Kritiker könnte etwa der Meinung sein, fortschrittliches Theater sollte der Entfaltung der persönlichen Freiheit dienen und zugleich den Kreis der Bewußtheit zu vergrößern helfen. Er wird in diesem Falle die möglichst totale, rücksichtslose, auch soziale Zurschaustellung der menschlichen Kreatur infolge extatischer Enthemmung, dieses Ziel aller Tabuzertrümmerungen, als fortschrittlich nicht bezeichnen können, denn sie bringen für das Bewußtsein wohl nicht allzu viel.

Er wird sich überhaupt bemühen, das Neue an sich nicht als eine Qualität zu betrachten, sondern die Substanz des Neuen zu erfassen und zu werten -mit den Maßen, die ihm zur Verfügung stehen. Er wird sich sagen, daß auf einem Supermarkt und überhaupt in einem System, das angesichts der Uberproduktion von Waren den Verkaufserfolg mit einer geistigen Leistung verwechselt, Neuheit an sich - für den Supermarkt, für das System - einen Wert haben muß, daß aber für das geistige Leben und also auch für das Theater nicht jede Neuheit zwangsläufig einen Gewinn bedeutet. Auch der Nationalsozialismus ist irgend einmal etwas Neues gewesen. Das heißt: das

Neue kann auch rückschrittlich sein. Auch wird ein solcher Kritiker die ideologischen Standorte der Autoren beobachten und er wird sich - mit dem marxistischen Philosophen Georg Lukäcs - die Frage stellen: Können und sollen wir die Verbreitung wirklich oder vermeintlich progressiver Ideen für einen Akt der progressiven Kunst halten?

Und er wird, mit Lukäcs, zur Ansicht gelangen.daßdieWiederholungvonbe-reits systematisierten Ideologien und

ihren Parolen für den Fortschritt keinen Gewinn bringt, da progressive Kunst sich unmöglich mit der Repeti-tion des bereits Vorhandenen begnügen kann, vielmehr die Aufgabe hat -parallel zur Wissenschaft, allerdings mit ihren eigenen, Methoden -, bisher noch Unartikuliertes zu entdecken und zu formulieren und auf diese Weise die bis dahin nicht wahrgenommenen Vorgänge im gesellschaftlichen Unterbau ins Bewußtsein zu heben. Wer nichts anderes kann, als bekannte Parolen zu wiederholen, meint Lukäcs, reiht sich mit seinen Bemühungen in den absterbenden Teil des kulturellen Geschehens.

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