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Heilsame Einseitigkeit

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Daß man, wenn man etwas lernen will, zuerst einmal lernen gelernt haben muß, und wie man das Lernen erlernt, hat der Wiener Journalist Sebastian Leitner vor einigen

Jahren in einem beherzenswerten Buch dargelegt. In logischer Konsequenz stellt er nun die Frage, ob auch das Leben erlernbar sei, und bejaht sie mit einem neuen Buch:

„So lernt man Leben.“ Der viel zitierte „Trost der Philosophie“ sei — so Leitner — ein schwacher Trost, wenn man höchst konkret an Platzangst oder an Impotenzfurcht leidet, wenn man vor mehr als drei Menschen nicht zu reden wagt, sich trotz beginnendem Raucherbein das Rauchen nicht abgewöhnen kann.

Da hat es der in Existenznot geratene Orientale doch leichter, denn seine Philosophien erteilen ihm handfeste Ratschläge. Das übersieht Leitner; er wirft sozusagen die Bhagavadgita in einen Topf mit der „Kritik der reinen Vernunft“, und aus der praktischen Unanwendbar-keit der Systemphilosophie folgert er, Lebenshilfe sei nur jenseits von Philosophie zu gewinnen — nicht metaphysisch, sondern nur physisch, ja gewissermaßen nur physikalisch. Vereinfacht ausgedrückt, überträgt er seine Methode des Vokabellernens auf die Erreichung dessen, was man gemeinhin als Selbstverwirklichung bezeichnet. Es gelte nur, der Angst ganz buchstäblich den Boden abzugraben, wofür die Verhaltenspsychologie die (von Leitner praktikabel gemachten) Techniken offeriert.

Ausgespart bleibt dabei die nur dem Menschen eigentümliche Frage nach dem Warum des als Selbstverwirklichung begriffenen Lebens — die allemal nur im Hinblick auf einen metaphysischen Bezugspunkt eine dem Menschen gemäßte Antwort findet. Das Tier, aus dessen Verhalten man neuerdings gerne auf das des Menschen schließt, ist gewiß imstande, sieh Glücksempfindungen zu verschaffen, und sei das auch nur durch Vermeidung von Schmerz. Doch ihm fehlt, was den Menschen, bei aller Verhaftung im Animalischen, auszeichnet: die Fähigkeit, das zu Müssende auch zu wollen. Und erst in diesem Einverständnis mit den Tatsachen, in diesem Akzeptieren des persönlichen Schicksals, und nicht schon in Glücksempfindungen, gewinnt der Mensch die ihm eigentümliche Freiheit: Nicht nur die der Wahl — denn die hat auch das Tier —, sondern • die geistige Souveränität über die materiellen Bedingtheiten seines Daseins.

Diesem hohen Begriff der Freiheit ist letztlich auch Leitner verpflichtet, nur peilt er ihn eben vom anderen Ende her an. Offenbar glaubt er mit A. P. Gütersloh, daß man „Materialist sein muß, um das Eindringen einer falschen Transzendenz zu verhindern“; und von der Basis des rationalistischen Humanisten aus erneuert er den keineswegs spöttisch gemeinten Vorschlag Oscar Wildes, „Die Seele durch die Sinne zu heilen“. In dem sich christlich nennenden Abendland ist man ja meistens den umgekehrten Weg gegangen, dabei weit mehr zur Selbst-versklavung als für die Selbstbefreiung des Menschen wirkend.

Idealismen jedweder Art verstellten den Blick auf das, was Doderer als die „Mechanik des Geistes“ beschrieben hat; auf die volle Wirklichkeit, die nicht einfach da ist, sondern immer erst jeweils entsteht, und zwar jeweils im Einklang von innerem und äußerem Leben. Bei Leitner heißt das konkret: Ein in seinem Verhalten gestörter Mensch ist nicht eben bloß ein verhaltensgestörter, sondern auch ein substantiell gestörter Mensch.

Die innere Ordnung läßt sich — nach Leitner — dadurch wiederherstellen, daß man die äußere Ordnung schafft. Anders ausgedrückt: Den Menschen in Existenznot rettet nicht ein einziger großer Entschluß, nicht ein einziger Willensakt, sondern nur eine scheinbar endlose Serie kleiner und kleinster Taten. (In die Sprache der Individual-psychologie übersetzt, hieße das etwa, den Minderwertigkeitskomplex nicht durch Machterlebnisse kompensieren zu wollen, sondern durch Werterfahrungen gleichsam auszulaugen.) Militärisch gesprochen, warnt Leitner vor dem Frontalangriff gegen das feindliche Zentrum und rät dafür zum Kleinkrieg gegen die Außenposten des Gegners, gegen dessen Versorgungsbasis und Nachschublinien; denn tausend siegreich bestandene Scharmützel summieren sich schließlich ja doch zur gewonnen Schlacht. Nicht die Angst selber sollte bekämpft werden — man kriegt sie ja doch nicht in den Griff. Erfolgversprechend Ist nur, ihre jeweils winzigsten Auswirkungen — mehr mit List als durch rohe Gewalt — niederzuringen, weil diese Wirkungen ja auch die Ursache sind für das Weiterbestehen der Angst.

Ob die Techniken, die Leitner für sich erarbeitet hat — vom Zettelkatalog bis zum Tonbandsignal —, nun wirklich jedermanns Sache sind, darf getrost dahingestellt bleiben. Der Autor hat jedenfalls ei*e Brücke gebaut — gehen muß jeder Leser selbst.

SO LERNT MAN LEBEN. Von Sebastian Leitner. Mit 50 Zeichnungen von Rudolf Ross. 373 Seiten Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München.

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