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Klare Vertrge sind der beste Schutz

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Immer noch wird in Europa über die Tragödie der deutschen Ostpolitik herumgerätselt. Es scheint immer schwerer zu werden, herauszufinden, wer da wen hineingelegt hat und wie es überhaupt soweit komme konnte, daß keine wie immer gearteten sowjetischen Gegenleistungen auf die gewaltigen deutschen Konzessionen erfolgten.

Natürlich hat eine solche Entwicklung viele Gründe. Erstaunlich ist jedoch, daß kaum auf eine Tatsache hingewiesen wurde, die für alle Völker (also nicht nur für die an den Ostverträgen direkt interessierten) Bedeutung hat. Es bandelt sich um ein Element diplomatischer Technik.

Im allgemeinen war die Diplomatie im 19. Jahrhundert auf hohem Niveau. Man kann das gleiche von der heutigen kaum behaupten. Dabei wäre es unvernünftig, zu glauben, daß unsere Diplomaten wesentlich dümmer seien als ihre Vorgänger. Es gibt demnach Gründe, die nicht so sehr von der Einzelperson wie vom System abhängen.

In diesem Zusammemhang ist eine Tatsache bemerkenswert: Im 19. Jahrhundert wurden Verträge fast ausnahmslos in einer einzigen Sprache, nämlich Französisch, geschrieben. Der französische Text eines Vertrages galt als authentisch. Franizösisch ist eine von Natur aus politische Sprache. Was den Sinn der Worte betrifft, ist es wesentlich klarer als die germanischen Sprachen.

Mit dem zunehmenden Analphabetismus der politischen Welt, der das 20. Jahrhundert charakterisiert, setzte eine Wandlung ein. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ist es allgemein gebräuchlich geworden, jeden Vertrag in allen Sprachen der Verhandlungspartner abzufassen. Außerdem fügt man ihm eine Klausel an, die besagt, daß alle Texte gleichermaßen als authentisch anzusehen seien.

Wer sich mit Sprachen und speziell mit der juristischen Aus-druoksweise befaßt bat, weiß, daß ein solcher Paragraph aufgelegter Unfug ist. Bei komplizierten Texten ist eine klare und sinngemäß richtige Übersetzung in den meisten Fällen unmöglich. Weniger juristisch orientierte Sprachen (die germanischen und slawischen) haben oft für einen Begriff mehrere Wörter. Man kann demnach- wohl technisch gute Ubersetzungen herstellen, sinngemäß entsprechen aber die Texte einander trotzdem nicht. So entsteht zwangsläufig eine Konfusion, die über- die schon beinahe normale Unklarheit juristischer Texte weit hinausgeht.

Eine alte Erfahrung lehrt, daß im Fall eines vieldeutigen Abkommens die Version des Stärksten zur authentischen wird. Das gÄ auch für Vereinbarungen, die in verschiedenen Sprachen geschrieben werden. Und man bemerkt es bei den Ostverträgen, die auf Deutsch und Russisch abgefaßt sind. Schon vor der Ratifikation haben einige Sachverständige auf die Zweideutigkeit einzelner Wörter hingewiesen und die Gefahren aufgezeigt, die hier entstehen können. (Das gilt gleichermaßen für den sogenannten Atomsperrvertrag.) Leider wurden diese Warnungen überhört. Sie paßten nicht in das Konzept von Politikern, für die das Hauptinteresse darin bestand, des Effektes wegen möglichst schnell abzuschließen.

Das Ergebnis dieser Politik hat rrtcht auf sich warten lassen. So hatte die Sowjetunion die Möglichkeit, unter Auswertung beider Texte den Ostverträgen eine Interpretation zu geben, die nicht in der Intention der deutschen Unterhändler lag. Es entstand somit in einigen Punkten ein sinngemäß neuer Text, der in der deutschen Bevölkerung den Eindruck erweckte, daß ihre Regierung ihr nicht die volle Wahrheit gesagt habe. Dabei dürften die Unterhändler, bei.ihrer Unkenntnis der Sprache des anderen, bloß in Fallen gegangen sein, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten. Der politische Preis solcher Fehler ist teuer — insbesondere für das Volk, in dessen Namen der Vertrag unterzeichnet wird.

Die Sowjetunion besitzt heute einen der besten diplomatischen Dienste der Welt. Das ist nicht erstaunlich. Im russischen System kann man nicht, wie im Westen, einen Posten „ersitzen“. Dort wird der Aufstieg vom Er-foLg oder Mißerfolg bestimmt. Für den russischen Diplomaten ist Politik eine Fortsetzung der Konfrontation mit anderen Methoden; und in einem Krieg zählt nur der Sieg. Dazu kommt die Tatsache, daß es im sowjetischen System, insbesondere an der Spitze, viel mehr Kontinuität gibt als im Westen. Seit den Tagen Hitlers hat es in Rußland nur drei Außenminister gegeben: Litwinow, Molotow und Gromyko. In allen westlichen Staaten war es ein Vielfaches dieser Zahl. Gerade in einem Beruf, in dem die Erfahrung von größter Bedeutung ist, war sowjetische Stabilität oftmals entscheidend.

Im Licht der Tragödie der deutschen Ostpolitik und der technischen Gründe für diesen Fehlschlag wäre es daher geboten, sich in Europa mehr als bisher mit der diplomatischen Technik zu befassen. Man müßte den Mut haben, endlich mit kleinkariertnationalistischen Vorurteilen aufzuräumen und jene Grundsätze anzuwenden, die Erfolg versprechen. Demnach wäre es geboten, in der taternationailen Diplomatie wieder zu der bewährten Methodik des 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Französisch ist nun einmal die Dipüamatensprache. Sie wieder einzuführen, wäre also nicht etwa blinder Traditio-nalismus oder gar reaktionäre Rückkehr in eine für immer da-hingesunkene Vergangenheit. Es wäre ein politisch berechtigter Schachaug, um endlich wieder Klarheit in das internationale Recht und in die zwischenstaatlichen Beziehungen zu bringen. Natürlich wird es auch dann noch durchaus möglich sein, daß Regierungen Fehler machen und ein X für ein U nehmen. Aber es wird nicht mehr so leicht sein wie heute. Zumindest wird es viel schwieriger werden, den Mangel an Gedanken mit öden Phrasen zu verdecken.

Allzu wenige haben sich gefragt, warum gewisse Mode-theoilogen in der kirchlichen Entwicklung soviel Gewicht auf die Abschaffung des Lateins gelegt haben. Es ist das aber, von ihnen aus gesehen, durchaus verständlich. Man kann im Lateinischen nicht soviel Unklarheiten und schwammige Gedanken in die Welt setzen wie in den meisten modernen Sprachen; Die Abschaffung des Lateins war notwendig, um Konfusion zu säen und um den Mangel an echten Ideen zu tarnen. Das gleiche gilt für die Diplomatie.

Klare Verträge sind der beste Schutz der Schwachen. In einer gefährlichen Zeit wie der unseren ist diese Erkenntnis wichtiger denn je.

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