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Mit eigenen Augen

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Doktor Kreisky hat unlängst gesagt, daß er sich frei von Ressentiments gegen ehemalige Nazis fühle; schließlich habe sich seine Partei auch 1945 nicht durch Ressentiments von der Zusammenarbeit mit der ÖVP abhalten lassen.

Derlei Großzügigkeit ehrt den Doktor Kreisky — ihn ganz besonders. Ob’s ihm auch alle Ehemaligen danken werden? Festgestellt sei aber, daß der ganze Vergleich hinkt. Die moralische Grundlage der Koalition von 1945 war die gemeinsame Leiderfahrung der Sieger und Besiegten von 1945 als Opfer des Naziterrors zwischen 1938 und 1945. Welche gemeinsame moralische Grundlage besitzt die SP mit der FPÖ? Daneben gab und gibt es eine noch wichtigere, alle Österreicher betreffende und historisch einigende Erfahrung: daß wir, mit den Erlebnissen von 1938 bis 1945 ausgestattet, vollends und endgültig Österreicher geworden sind. Unser aller Deutschnationalismus — vordem auf die eine oder andere Weise von Seipel, Dollfuß, Schuschnigg ebenso gehegt wie von den Adler, Renner, Otto Bauer und Seitz — hat sich als historische Todsünde gegen die österreichische Eigentlichkeit erwiesen.

Grundlage für den Deutschnationalismus war der Trümmerhaufen, den Friedlich der Große und Napoleon aus dem Römischen Reich Deutscher Nation, geführt von der Casa Austriae, gemacht hatten. Seine eigentliche Geburtsstätte war jedoch Königgrätz, sein Kindergarten die mit 1918 vollendete Sezession der Nationalitäten aus der k. u. k. Monarchie.

Wer nach all diesen bösen, doch auch nach anderen, guten und positiven Erfahrungen noch immer leugnet, daß die Österreicher Österreicher und eine Nation geworden sind, wer sie immer noch als Teil der deutschen Nation sieht, dem ist nicht zu helfen. Und schon gar nicht durch die Aufnahme in eine österreichische Regierungskoalition. Die FPÖ hatte eine große Chance: die in Österreich seit vielen Jahrzehnten leere Stelle einer echten liberalen Partei zu füllen. Doch gerade dazu war sie nicht imstande. Deutschnationalismus und Liberalismus sind nicht vereinbar.

Es geht hier — man lächle nicht — um die Moral oder Unmoral, eine Partei regierungsfähig zu machen, welche die Grundlagen des österreichischen Seins leugnet. Man lächle deshalb nicht, weil Moral oder Unmoral weit entscheidender sind als noch so smarte Expedienz, wo es sich um die Grundlagen einer Nation handelt. Dr. Kreisky mag glauben, daß man zur Erreichung des Sozialismus auch die FPÖ als Partner in Kauf nehmen kann. Ich wünsche mir keinen Sozialismus, der über die euthanasischen oder außenpolitischen Vorstellungen eines Dr. Scrinzi et al. zur Verwirklichung gelangt.

Die ÖVP jedoch hat, mit Verlaub zu sagen, eine Mordsdummheit gemacht, als sie glaubte, mit der SPÖ in bezug auf Prinzipienlosigkeit wetteifern und zwei Kandidaten aufstellen zu müssen, die in der Frage der Nation mit der FPÖ gleichziehen. Es scheint, als ob die österreichischen Parteiführer sich diesmal verschworen hätten, uns das Wählen besonders schwer zu machen …

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