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Defaitismus...?

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Gegen das österreichische Volk wird eine ernste Beschuldigung erhoben. Ein englischer Parlamentarier, Anthony Nutting, trägt sie vor die Öffentlichkeit *. „Defaitismus und Lethargie“ habe schon vor 1938 die Österreicher „zu einer leichten Beute der sich nähernden Herrschaft Deutschlands gemacht“, in einem vielleicht noch höherem Grade als je zuvor sei dieser Defaitismus hetite da. — Es ist das, mit einem Fremdwort ausgedrückt, dieselbe Nachrede, die uns Österreichern die Kraftmeier des wilhelminischen Deutschland widmeten, die den ersten Weltkrieg verloren. Wenn man jetzt ähnliches aus englischem Munde hört, so könnte man, obwohl es bitter empfunden wird, schweigend darüber hinweggehen, weil man weiß, daß es nicht leicht ist, aus einem kurzen Reiseaufenthalt ein zutreffendes Urteil über ein ganzes Land zu fällen, zumal wenn der Gast aus den völlig anderen Voraussetzungen seiner Heimat kommt und sich ihm ein kompliziertes Tatsachenbild darbietet, das eine zuverlässige geschichtliche, politische und psychologische Analyse verlangt, wenn sie geraten soll. Doch ist das Bild, das der englische Politiker mit jenem Worte umreißt, nicht etwa eines, das den Vorstellungen heute so mancher Ausländer von Österreich und seiner seelischen Verfassung entspricht, von einem Lande, das, von Hunger und der Ungewißheit seiner staatlichen Zukunft bedrängt, daran sei, in Hoffnungslosigkeit zu verfallen? Vielleicht scheint es zuweilen so und dennoch kann es kein größeres Mißverstehen geben.

Nicht zu verhehlen ist, daß der Österreicher heute mit manchen Enttäuschungen fertig zu werden hat. Als der zweite Weltkrieg hereinbrach, war unser kleines Land als erstes und einziges schon mehr als fünf Jahre lang in schwerem Abwehrkampf gegen den Angriff Hitler-Deutschlands gestanden und nur, weil die Verteidiger keinen Defaitismus kannten und — obwohl in der nahenden Entscheidung ohne einen einzigen Helfer — bis zur Selbstaufopferung standhielten, mußte Hitler zur Gewalt greifen und nach seinen großen Friedensbeteuerungen an Frankreich, seine erste Demaskierung vollziehen. Nun, da die Würfel gefallen waren, begann der Österreicher auf ein neues Europa zu hoffen. Auf ein Europa, das dem vergewaltigten Lande zu Hilfe kommen werde. Die Enttäuschung folgte auf dem Fuße mit dem Liebesmahl Hitler — Mussolini — Chamberlain in München. — Der Weltkrieg kam aber doch und da die Österreicher keine Defaitisten waren, begannen sie mit dem Fortschritt der Ereignisse wieder auf ein neues Europa zu warten, auf ein Europa, das die Fehlkonzeption der Friedensverträge in Mitteleuropa — diesen Ursprung des zweiten Weltkrieges — soweit noch möglich korrigieren und getanes Unrecht an Österreich gutmachen werde. So wenig waren sie Defaitisten geworden, daß sie, vor kurzem noch Bürger einer Großmacht, nun in einer Zeit, da Zehntausende von ihnen, fast ihre gesamte Führerschichte, sich in den Kerkern Hitler-Deutschlands befanden und Monat und Monat Hunderte am Schafott verbluteten, noch immer in Großräumen dachten und glaubten, es werde jetzt die Zeit kommen, wo die gefährliche Kleinstaaterei des südlichen Mitteleuropa einer demokratisch zeitgerechten konstruktiven Kräftevereinigung weichen werde. Es ist anders gekommen. Es wäre naheliegend gewesen, ein wirtschaftliches Kondominium der an dem Zugang zum Golf von Triest interessierten Staaten anzubahnen und damit für Österreich eine Lebensader zu sichern. Man ist leider weit davon. In welcher Art die schwerwiegenden Probleme gelöst werden, die sich an den Namen Triest heften, ist noch ungewiß. Aber auch andere Lebensbedingungen für Österreich sind noch unerfüllt. Wir tragen daran schwer, aber man kann unser Volk nicht deshalb des Defaitismus und der Lethargie zeihen, weil es nicht leichtsinnig genug ist, sich mit der Lage abzufinden.

Es ist wohlgemeint, aber irrtümlich, wenn der englische Parlamentarier einen Defätismus verständlich hält bei einem Volke, „das zwei große Kriege innerhalb dreißig Jahren verlor“. Den ersten Weltkrieg hat durch die heute längst auch von der englischen und französischen Kritik anerkannte Fehlleitung der Friedensverträge ganz Europa verloren, und den zweiten Weltkrieg hat Österreich nicht verloren, sondern mitgewonnen, nicht nur durch seine Befreiung, sondern auch durch seine“ Opfer. Was der Zwang diesem Lande erpreßte, kann vor einem gerechten Urteile ebensowenig wiegen wie die Leistungen für die Kriegsrüstung, die Hitler-Deutschland sich von allen von ihm besetzten Ländern erzwang. Der Kriegsausgang für Österreich erweckte deshalb hoffnungsvolle Erwartung, aber nicht Defaitismus.

In der von ihm geschilderten Lage verlangt der englische Beobachter von den Mäch ten „moralische Hilfe“. „Österreich ruft nach einer Anleihe aus unserem großen Fonds moralischer Währung.“ Ein treffliches Wort. In der Tat, darum sollte es gehen. Es, ist menschenfreundlich, einem Volke in seinen schweren Nahrungssorgen beizustehen, aber einem Staate, der erlitt, was Österreich erlitt — der britische Parlamentarier bezeichnet ihn mit Recht als einen „tormen-ted body“, als einen „gemarterten Leib“ —, wird man dann helfen, wenn man ihm das Vertrauen auf die Gültigkeit des Rechtes und auf die feierlichen Verkündigungen großer, eine neue bessere Ordnung der Menschheit gewährleistender Ideen zu geben vermag. Das ist die „moralische Währung“, aus der nicht nur Österreich, sondern die ganze Welt der Hilfe bedarf. Für Österreich, diesen kleinen Staat, der nach harten Erlebnissen an einem schicksalschweren Platz des Abendlandes wieder in Freiheit und Selbständigkeit seine. Aufgabe als ein Pfeiler des Friedens und alter Kultur erfüllen soll, würde wenigstens eine teilweise Gutmachung geschehenen Unrechtes, der Zerreißung von Deutschtirol, als moralische Hilfe gelten. Doch dem österreichischen Volke wird kundgemacht, daß es auch darauf nicht zu hoffen habe. Das ist nun — was soll es verschwiegen werden! — die größte aller Enttäuschungen. Die Welt soll es wissen: Diese Wunde wird brennen, bis Tirol wieder eins wird. Nie wird Österreich verzichten! Dabei wird, Mr. Anthony Nutting, das . österreichische Volk nicht in „Defaitismus und Lethargie“ versinken! Es wird auch weiterhin laut seine Stimme erheben und dafür kämpfen, daß Recht wieder Recht wird und die Gerechtigkeit als eine bessere Bürgschaft für die Gesundung der Welt erkannt werde als Opportunismus und Macht. Was im Falle Deutsch-Südtirol geschieht, ist aber nicht nur eine rein österreichische Angelegenheit. Stimmen aus allen Völkern haben die Rückgabe Deutsch-Südtirols als notwendige Gutmachung anerkannt. Daß sie nicht erfolgt, nicht einmal in Form einer Teillösung, stellt vor dem Tribunal der Weltöffentlichkeit die Frage, welche Grundsätze künftig den Schutz der Staaten und Völker bestimmen werden. Nie dürfte diese Antwort so lauten, daß dadurch die „moralische Währung“ erschüttert würde. Denn dann bestünde die Gefahr, daß die ganze Menschheit, nach zwei Weltkriegen, an der Erwartung eines neuen Zeitalters des Rechts und des Friedens getäuscht, zu verzagen beginnen würde. Dann käme über alle Völker der Defaitismus, die lähmende Hoffnungslosigkeit.

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