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Mut in Ungarn gefragt

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Ein Budapester Privat-Theater nützt Freiräume und erregt Aufsehen. Das ist als Signal eines neu entstehenden politischen Selbstbewußtseins in Ungarn zu verstehen.

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Ein Budapester Privat-Theater nützt Freiräume und erregt Aufsehen. Das ist als Signal eines neu entstehenden politischen Selbstbewußtseins in Ungarn zu verstehen.

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„Mut soll wieder selbstverständlich werden“, hieß es dieser Tage vor Beginn einer Veranstaltung „In memoriam Aron Märton“ hinter den Kulissen des Budapester Jurta-Theaters. Und was anschließend geschah, war tatsächlich mutig - und auch selbstverständlich zugleich.

Da steht der Intendant vor dem riesigen Bild des von den Stalinisten und ihren Epigonen in Siebenbürgen verfolgten Bischofs und spricht von der Verantwortung, die die ganze Nation für das Schicksal der ungarischen Minderheit in Transsylvanien trägt. In den folgenden eineinhalb Stunden wird mit Hilfe von Augenzeugenberichten und Dokumenten der Lebensweg des katholischen Oberhirten dargestellt, der als unermüdlicher Verteidiger der Menschenrechte und der christlichen Werte seine Stimme sowohl gegen die Judenverfolgungen als auch gegen den großrumänischen Chauvinismus und Stalinismus mit kompromißloser Konsequenz erhoben hatte.

Frei vom Hauch des Nationalismus, ledig der Polemik und Agitation, über jedes Vorurteil erhaben, geht es hier um einen Mann der Kirche, der in Ungarn nicht mehr zu den totgeschwiegenen Tabus zählt. „Mit der Zeit werden wir auch über Kardinal Jozsef Mindszenty sprechen“, versichert Intendant Läszlö Romhänyi der FURCHE. Trotz der dabei zu überwindenden zahlreichen Schwierigkeiten will er mit seinem seit vorigem Herbst tätigen Privatunternehmen einen Beitrag zum allgemeinen Prozeß der Be-wußtwerdung und politischen Emanzipation leisten.

Die dabei auftretenden Widersprüche beirren leicht undVerlei-ten zu einem schematischen Denken, das die politische Phase der Reform-Ära lediglich als einen verzweifelten Versuch der Partei betrachtet, in einer kritischen wirtschaftlichen Lage durch Anbiederung an die Gläubigen (siehe Fernsehübertragung der Mitternachtsmesse zu Weihnachten aus Budapest) Zeit zu gewinnen. In Wirklichkeit ist die Lage viel komplizierter.

Die staatliche Kirchenpolitik wird nämlich nach wie vor mit

Hilfe jener längst überholten Apparate realisiert, die einen wirksamen Dialog kaum fördern. Man könnte eine lange Liste kirchlicher Klagen anführen, zu deren Beseitigung der Apparat nicht die geringste Neigung zeigt. Die Verantwortung der Kirche ist dabei freilich nicht zu übersehen. Das sture Festhalten am einst gewiß wohlbegründeten Kompromißkurs ermuntert nicht nur die staatliche Ignoranz, sondern fordert geradezu die weitere Privatisierung des Denkens der Gläubigen heraus, die sowohl den kirchlichen als auch den weltlichen Gemeinschaften gegenüber immer gleichgültiger werden.

Es trifft aber auch zu, daß die die Apparate scheinbar nur langsam erfassende politische Reform bereits einige institutionelle Freiräume geschaffen hat, die von der Öffentlichkeit im Inland viel zu wenig, im Ausland überhaupt nicht wahrgenommen werden.

Das Jurta-Theater als eingetragener Verein ist zum Beispiel lediglich dazu verpflichtet, seine Programme bei der Kulturabteilung der Kreisverwaltung anzumelden. Der Behörde ist es jedoch gesetzlich untersagt, das Vorlegen von Texten zu verlangen beziehungsweise in die Programmgestaltung einzugreifen.

Es bringen aber nur wenige fertig, die Paragraphen eingehend zu prüfen, die den Bürgern seit einiger Zeit die Möglichkeit bieten, ihre Ansichten im institutionellen Rahmen zu artikulieren. Allerdings ist es noch nicht so lange her, daß einige staatlich geförderte Diskussionsclubs einfach geschlossen wurden, infolge von „alten Reflexen der Zuständigen“, wie es heute heißt. Von einer Auflösung privater Vereine ist noch nichts bekannt.

Die in der Mehrheit der Bevölkerung fortlebenden „alten Reflexe“ - Resultate einstigen Terrors und der späteren Korruption — wirken oft in Ubereinstimmung mit den überholten Apparaten weiter, die die größten Hindernisse auf dem Wege der Reformentwicklung bilden.

Doch der Weg ist bereits vorgezeichnet: Die Reformer haben nämlich die zwischen der Veränderung der überholten Strukturen und der Förderung der Emanzipation der Bevölkerung bestehende Wechselwirkung erkannt.

In diesem Sinne wollen sie mit Hilfe der Konfrontation der Meinungen ihre eigene Position gegenüber den der Umgestaltung hartnäckig Widerstand leistenden Apparaten stärken. Die Möglichkeit, daß Mut in Ungarn bald wieder selbstverständlich sein wird, besteht zweifelsohne.

Insbesondere, wenn die zuständige Behörde mit solchen Sorgen zu kämpfen hat, wie gerade eben: Im Innenministerium wird nämlich eifrig an einem Arbeitslosenfonds für jene gearbeitet, die infolge der bereits begonnenen Umstrukturierung bald entlassen werden.

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