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Parteien als soziales Gewissen?

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„Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen“, steht neuerdings als Ubersetzung eines alten lateinischen Spruches in Balkenlettern auf den Auslagenscheiben eines großen Autosalons an der Wiener Ringstraße. Dort bezieht sich der Spruch nur auf die ausgestellten Automobile. Der Spruch fällt einem aber aucb ein, wenn man die beiden Konzepte ansieht, die ÖVP und SPÖ in der Vorwoche veröffentlicht haben.

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„Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen“, steht neuerdings als Ubersetzung eines alten lateinischen Spruches in Balkenlettern auf den Auslagenscheiben eines großen Autosalons an der Wiener Ringstraße. Dort bezieht sich der Spruch nur auf die ausgestellten Automobile. Der Spruch fällt einem aber aucb ein, wenn man die beiden Konzepte ansieht, die ÖVP und SPÖ in der Vorwoche veröffentlicht haben.

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Ist es bei den Sozialisten ein Plan, der schlicht als Verkehrskonzept bezeichnet wird, der aber über das Problem der Bewältigung des Verkehrs hinaus grundlegende wirtschaftliche und soziale Fragen erörtert (siehe unseren Beitrag auf dieser Seite), so bekennt sich die ÖVP in ihrem Aktionsplan unverhüllt zur Bezeichnung „Lebensqualität“. Und hier sieht man, wie sich für die politischen Parteien innerhalb weniger Jahre die Pyramide der Werte auf den Kopf gestellt hat.

War es nicht nur in den ersten Nachkriegsjahren, sondern auch in der Konjunkturaufschwungsphase der fünfziger und sechziger Jahre allen Parteien darum gegangen, ihren Wählern und Sympatisanten Lösungsmöglichkeiten für die wirtschaftliche Besserstellung des einzelnen anzubieten, so sieht das heute anders aus. Nicht mehr der Fernsehapparat, der Kühlschrank oder das Auto stehen im Vordergrund des Interesses, sondern Dinge, für die noch vor wenigen Jahren niemand etwas übrig gehabt hätte. Wo gab es denn früher vom Individualverkehr so restlos verstopfte Städte, von Abwässern verunreinigte Flüsse und Seen oder die Müllplage? Wer etwas gespart hatte, blieb in seiner alten Kleinwohnung ohne sanitäre Anlagen, kaufte sich dafür aber einen chromgiänzenden Flitzer, einen Fernsehapparat, oder fuhr im Sommer nach Caorle. Durch gigantische Reklame wurde der Kauf und Verbrauch von Konsumgütern gefördert — das Bewußtsein der Menschen war auf den Verbrauch von kurzlebigen Luxusgütern ausgerichtet.

Die Aufbauarbeit, die Staat und Gebietskörperschaften noch lange nach dem Abzug der Besatzungstruppen zu leisten hatten, war den nötigsten Voraussetzungen der Infrastruktur gewidmet. An den Bau von Ringwasserleitungen oder Kläranlagen dachte niemand. Auch die Situation der Spitäler wurde immer unhaltbarer, der quantitativ orientierte soziale Wohnbau entwickelte unzählige Schattenseiten. So ist zum Beispiel in Wien eine Gemeindewohnung mit zwei kleinen Wohnräumen und einer Gesamtfläche von etwa 50 Quadratmetern für fünf Personen konzipiert. Auf der anderen Seite stehen unzählige Neubauwohnungen der Gemeinde Wien leer. Die Mieter sind wieder ausgezogen, weil Bezieher kleiner Einkommen sich die schönen Drei-

zimmerwohnungen mit Bad, Balkon und Zentralheizung nicht leisten können.

Nicht nur Geld nötig

Die Stadtkerne sind mit Autoverkehr verstopft, weil jeder, der länger als bis zum Spätnachmittag beschäftigt ist, etwa in Wien nur sehr selten eine Straßenbahn vorfindet, die ihn nach Hause befördert. Er zieht es vor, rascher mit dem eigenen Auto heimwärts zu fahren.

In diese Situation stellen die beiden Großparteien ihre Programme.

Der ÖVP-Aktionsplan ist thematisch der umfassendere, gibt aber nur eine überblickhafte, programmatische Darstellung der Lösungsmöglichkeiten. Der SPÖ-Plan konzentriert sich auf ein Thema und ist daher präziser. Freilich enthält er Lücken. Der Gedanke, das Kfz-Pau-schale zu streichen und dafür den Nulltarif auf den öffentlichen Verkehrsmitteln einzuführen, bleibt solange eine Leerformel, als in Wien jedes Jahr weniger Straßenbahnen verkehren.

Und der im ÖVP-Plan enthaltene Slogan „Umweltschutz hat Vorrang vor Wirtschaftswachstum“ wird nicht nur in Unternehmerkreisen auf ein gewisses Maß an Ablehnung stoßen.

Der Satz, den der Bundeskanzler vor einigen Wochen bei einer Klausurtagung der Regierung in Linz wieder geprägt hat, man werde die Bevölkerung fragen müssen, was ihr

die Gesundheit wert sei, wird abgewandelt auch für die Durchführung der neuen Programme gelten. Dabei geht es hier nur unter anderem direkt ums Geld. Vielmehr wird eine ungeheure Aufklärungsarbeit notwendig sein — überhaupt zur Realisierung des ÖVP-Aktionsplanes. Was muß und kann der einzelne Staatsbürger zur Erhöhung seiner Lebensqualität und auch für ein besseres Leben für die Gemeinschaft tun? Wer weiß das schon? Wer denkt an Umweltschutz, wenn er eine Plastikflasche in den Mistkübel wirft, wenn er altes Petroleum in den Ausguß gießt?

Hier eröffnen sich für die Arbeit einer politischen Partei neue, vielleicht faszinierende, vielleicht auch gefährliche Perspektiven. Kann und darf sich eine Partei zum sozialen Gewissen der Bevölkerung machen, kann und darf sie den Staatsbürger zu Disziplin, Konsumverzicht, Gesunderhaltung von Körper und Geist auffordern? Wo liegen die Grenzen der persönlichen Freiheit? Verschieben sich diese Grenzen?

Die Bewußtseinsbildung hat eben erst begonnen. Die Programme der Parteien sind ein Anfang.

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