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Überforderte Medizin

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Freiheit von Not bedeutet vor allem auch Freisein von Leiden und Schwäche, also nicht krank zu sein. Solche Befreiung von Übel gehört zu den geradezu selbstverständlichen Ansprüchen, die der versicherte Bürger an die Einrichtungen der organisierten Sicherheit stellt. Damit hat es aber längst nicht mehr sein Bewenden.

In einer Welt, die alles für machbar und alles Machbare für kaufbar hält, verlieren wir zusehends selbst die nüchterne Einsicht, daß Krankheiten bis zu einem gewissen Grad zu den normalen Risiken eines jeden Lebens gehören.

Zu einem nicht geringen Anteil liegt dies an unserer Inkompetenz. Bei jeder Diskussion der öffentlichen Gesundheits- und Krankheitshilfen ist die Systembesonderheit zu beachten, daß es letztlich die medizinische Wissenschaft ist, die dem Kampf gegen die Krankheit und dem Streben nach Gesundheit die Form gibt. Die Medizin bestimmt, wer krank ist, was Krankheit ist. Der Medizinkonsument erlebt sich passiv, eben im vollen Wortsinn als Patient. Daß dabei die Diagnosen bei weitem die Zahl der verfügbaren Therapien übersteigen, ist ein wesentlicher Teü des Problems, n

Entscheidend ist nun für die Ge-samtproblematik, daß wir zwar zu einem Begriff der Krankheit gelangen können, während Gesundheit eigentlich nur schlicht als ihr Gegenteil, nämlich als Abwesenheit von Krankheit definierbar erscheint. Bei jedem Gegenstand so hoher Wertschätzung in der Bevölkerung besteht nun die emste Gefahr vorschneller Ideologisierung. Was die Gesundheit anlangt, kommt es zu einer miserablen Verwechslung von Heilung und Heil.

Die Weltgesundheitsorganisation trägt die Hauptschuld an solcher Ideologie, indem sie nämlich Gesundheit als Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens kennzeichnet und damit genaugenommen den glücklichen Menschen zum Leitbild der Medizin erklärt. Diese geradezu totalitäre Definition macht Medizin zu einem Element pseudoreligiöser

Tröstung und läßt sie die Funktion einer Droge annehmen.

Sosehr nun auch Medizin ihr Dienstleistungsangebot erweitert, ihre Techniken verdichtet und ihre Rezepte verallgemeinert, bleibt sie solchen Heilserwartungen gegenüber überfordert

Und diese Uberforderung bewirkt den Umschlag von einem Recht auf Gesundheit in ein Recht auf Krankheit. Man hat uns mit überheblicher Ideologie die Gesundheit enteignet. Weil niemand wirklich glücklich ist, nicht völlig Wohlsein kann, sind wir alle lebenslang krank (und sterben sogar am Schluß).

Wenn wir aber alle krank sind, haben wir ja einen Anspruch darauf, behandelt zu werden. Die umfassend übersteigerte Gesundheitsdefinition ist das Trojanische Pferd, wodurch ein ebenso umfassender Betreuungsanspruch in das tägliche Leben hereingenommen wird und sich breit macht.

Unter dem Deckmantel der Heilung findet eine ungeheure Entleerung des Menschen statt. Man füllt uns mit „Heilmitteln“ und nimmt uns zugleich die naheliegendste Sorge und Aufgabe: die Verantwortung für uns selbst. Damit aber löscht man den Sinn aus, den wir unserem Leben geben könnten und sollten.

Bei diesem Stand gesundheitspolitischer Perversität angekommen, ist eben mit Nachdruck daran zu erinnern, daß freilich kein System von Gesundheitshilfen auch nur annähernd imstande ist, solchen eingeredeten Bedürfnissen Genüge zu tun, sind doch noch alle wichtigen Leiden ein Rätsel. Die vielzitierte Rückkehr des Menschen in die Medizin muß zuallererst eine Rückkehr zu realistischen Betrachtungsweisen sein. Bei allem berechtigtem Fortschrittsglauben auch in diesem Bereich muß der erwartbare Nutzen medizinischen Wirkens bescheiden kalkuliert werden.

Dies wäre auch Vorbedingung für eine realistische Diskussion der explodierenden Kosten.

(Der Autor ist Referent für Sozialpolitik in der oberösterreichischen Handelskammer.)

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