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Unentrinnbares Geschick?

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1963 schoß die Große Allianz der Vereinigten Linken in der BRD (Liberale + Linke + linke Linke) den „CDU-Staat“ aus der Stellung. Im Jahr darauf, 1970, verlor in Österreich die ÖVP gegenüber einer ähnlichen Allianz jene Spitzenposition, die sie und ihre Vorgängerinnen seit 1907 mit wenigen Unterbrechungen inne hatten. In beiden Fällen erwies sich der von den Siegern zuerst als normalmäßiges demokratisches Ablösungsverfahren deklarierte Vorgang als ein folgenschwerer Systemwechsel mit vorläufig nicht abschätzbaren Auswirkungen auf Europa und die Welt. Der Autor der vorliegenden Adenauer-Studie hat bereits vor mehr als zehn Jahren aufgezeigt, wie Ende der fünfziger Jahre von den Führern der christlichen Demokraten in Bonn jene Weichen falsch gestellt wurden, über die dann in den bewegten sechziger Jahren die Anschlußzüge in eine völlig veränderte Landschaft der Nach-Adenauer-Ära fuhren. Eine genaue Kenntnis der Insäde-Story dieser Tragödie der Macht verdankte der Autor um 1959/60, derzeit Chefredakteur in Hannover, damals Korrespondent in Bonn, Kontakten mit damaligen Spitzenfunktionären der CDU/CSU in Partei und Staat; deren Sorge, eine frühzeitige Veröffentlichung der nunmehr vorliegenden Studie könnte der Partei Adenauers in der Tagespolitik schaden, veranlaßte den Autor, die Publikation bis dato unter Verschluß zu halten. Diese nicht alltägliche Loyalität gegenüber Informanten mit hohem Rang und großer Verantwortung erweist sich per saldo als Rücksichtnahme auf einen Patienten in politicis, der eine ihn betreffende Diagnose in den Panzerschrank legt, anstatt sie zum Anlaß rechtzeitiger ärztlicher oder medikamentöser Behandlung zu nehmen.

Die geschichtlichen Daten des großen Irrtums, dem die christlichen Demokraten in der Spätkrise der Ära Adenauer (sowie in der Ära Raab) zum Opfer fielen, sind bekannt: 1959, nach dem Ablauf des letzten verfassungsmäßigen Termins der Präsidentschaft Theodor Heuss, steht Adenauer vor der Brücke, über die er nicht gehen will. Die Vorentscheidung über die Nachfolge in die in seiner Hand vereinigten Spitzenpositionen wird unaufschiebbar. Wirtschaftsminister Erhard wird als Präsidentschaftskandidat nominiert. Er nimmt an — und verzichtet. Die Nominierung fällt auf Konrad Adenauer und Erhard soll und will Bundeskanzler nach Adenauer werden. Eine tiefe Besorgnis befällt Millionen Deutsche: Mit einem Schlag sollen Erhard, der Schöpfer des Wirtschaftswunders, und Adenauer, längst Grand Old Man in Bonn, aus ihren Ämtern scheiden und in beiden Fällen die Nachfolge in Hände geraten, deren Inhaber noch nicht einmal in Umrissen erkennbar sind. Unter den christlichen Demokraten beginnt das Nachfolge-Heuss-Spiel, in dem viele Fragen offen bleiben und vor allem eines offenbar wird: Adenauer ist entgegen der öffentlichen Meinung aus guten Gründen und instinktsicher gegen eine Kanzlerschaft Erhards. Aus einer Vielzahl schlecht koordinierter Ent-scheidungsprozesse ergibt sich schließlich eine Resultante, die, wie viele Ersatzlösungen, sofort als unabweisbar und logisch einbetoniert wird: am 1. Juli 1959 wird Heinrich Lübke zum Nachfolger Heuss' gewählt. Dem Wohlstandsbürger bleibt der Schöpfer des Wirtschaftswunders Ludwig Erhard erhalten; das Nachfolge-Adenauer-Spiel kann abgesetzt werden. Die Prolongation der Ära Adenauer verschärft deren Spätkrise. Noch mehr: mit diesem Mischmasch von halben Entschlüssen und ganzen Fehlentscheidungen begeben sich die Bonner christlichen Demokraten in eine Bereitstellung für die Auseinandersetzungen der sechziger Jahre, die der Agitprop der Vereinigten Linken einen schlecht besetzten Frontabschnitt offeriert: die Linke wird in diesem Jahrzehnt das großväterliche Image des Bundespräsidenten Lübke in die Teufelsfratze eines KZ-Konstrukteurs verzerren und die politische Unerfahrenheit des bewährten Wirtschaftsfachmannes Erhard erbarmungslos bloßstellen. Der heimtückische Exkommunist Herbert Wehner wird die christlichen Demokraten in die von Adenauer nicht zu Unrecht gefürchtete Liebeslaube einer Großen Koalition CDUCSU/SPD locken und so der 20 Jahre in hoffnungsloser Opposition befindlichen Linken den Haltegriff verschaffen, mit dem viele sich 1966 auf die Bonner Regierungsplattform ziehen konnten, um 1969 ihren christlich-demokratischen Koalitionspartner mit Hilfe des inzwischen in ihrer Kartei angelangten Christdemokraten Heinemann zu feuern.

Die bis zur bevorstehenden Bundestagswahl in der BRD ungewisse und unzulängliche Position der christlichen Demokraten auf den Stühlen der Opposition in Bonn hat in Österreich ein seltsames Simile bekommen: 1957, nach dem Tod des Bundespräsidenten Theodor Körner, lehnt es Bundeskanzler Julius Raab auf dem Höhepunkt seiner staatsmännischen Laufbahn ab, durch die Annahme einer Nominierung zum Präsidentschafskandidaten „nach

Pensionopolis zu ziehen“, wie er wörtlich in jenem Frühjahr sagte. Damals wäre es der Linken in Österreich schwer gefallen, dem Kanzler der Staatsvertragsära, der Verkörperung des Raab-Kamitz-Kurses den Weg ins Präsidentschaftspalais zu sperren. Aber der 63jährige zwingt seiner Partei die Vertagung einer vorsorglichen Instradierung seiner Nachfolge auf und er erfüllt damit die Kombination jener Strategen, die aus guten Gründen nicht gerne hinter den Horizont von morgen schauen möchten. Schon im Herbst des selben Jahres erleidet Raab jenen Gesundheitsschaden, der sich bis zu seinem Rücktritt als Bundes-parteiobmann (1960) und Bundeskanzler (1961) als ein Handikap erweisen soll: ein seltsames Laissez-faire greift in der Partei um sich, das die Vorsorge für die wertvolle Hinterlassenschaft Raabs, die Reform der Partei auf dem Bundesparteitag 1963, Klagenfurt, und die fällige Neuorientierung auf neue Ziele, Methoden und Typen der sechziger Jahre vertagt, verzettelt, vertut; bis der in seinen Ausmaßen irreguläre Sieg der Partei in der Nationalratswahl 1966 jene Fehlkonstellationen und Fehlkonfrontationen zeitigt, die 1970/71 die SPÖ unmittelbar nach ihrem tiefsten Fall zu der obersten Höhe ihrer bisherigen Erfolge emporträgt.

Geschichte läßt sich weder wiederholen, noch unberührt erhalten (Be-nedetto Croce). In den beiden Fällen, der Ära Adenauer und der Ära Raab, fand keine Wiederholung statt; vielmehr ein scheinbar unentrinnbarer gleichzeitiger und gleichartiger Ablauf des Geschehens am Ende der Ära des Grand Old Man. Angesichts des nunmehrigen Experiments Kreis-kys verdient der Satz des liberalen Historikers Croce, zumal wegen des Nachsatzes, Beachtung.

Der vorliegende schmale, nur 99 Seiten umfassende Band, ist mehr als ein gutes Substrat für ein politologisches oder zeitungswissenschaftliches Semestersemdnar. Es ist ein kurzgefaßter Lehrgang für politische Bildung, namentlich unter christlichen Demokraten, und in der Parteigeschichte ein Kapitel mit der Überschrift: So nicht.

DIE BUNDESPRÄSIDENTENWAHL 1959. Wollgang Wagner in: Adenauer-Studien. Hgg. von Rudolf Morsey und Konrad Repgen, Band II, Mainz, 1972, 99 Seiten.

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