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LUDWIG ERHARD / KANZLER NACH ADENAUER
Eine schwere Last wartet auf Ludwig Erhard in diesem Herbst: Er wird der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nach Dr. Konrad Adenauer. Die Auseinandersetzungen, ja die Kämpfe mit Dr. Adenauer haben lange Jahre diesen Mann überschattet. Einen Höhepunkt hatte dieser Zwist 1959 erreicht, als der Bonner Bundeskanzler es für richtig hielt, seine Ansicht von der angeblich fehlenden politischen Qualifikation Erhards nicht nur in Gesprächen im Inland, sondern auch
in einem Interview mit der „New York Times“ der Weltöffentlichkeit mitzuteilen.
Daran mufl heute erinnert werden, weil noch niemand sagen kann, wie weit die Verwundungen bereits verheilt sind, die dieser in seinem Inneren sensible Mann sich in den Kämpfen in Bonn und um Bonn 1949 bis 1963 erworben hat.
Der schwer Kriegsversehrte des ersten Weltkrieges konnte das kaufmännische Geschäft seines Vaters im bayrischen Fürth nicht übernehmen, wurde Student in Nürnberg und Frankfurt.
Der junge Ludwig Erhard war von 1928 bis 1942 wissenschaftlicher Assistent, dann Abteilungsleiter, schließlich Leiter des Instituts für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware an der Handelshochschule Nürnberg. Die letzten Kriegsjahre arbeitete er freiberuflich. Den politisch integren, fachlich hochbegabten Mann zogen nach Kriegsende zunächst die Militärregierungen als Berater und Re-organisator deutscher Unternehmungen heran; im ersten bayrischen Kabinett Högner wurde Erhard Staatsminister für Handel und Gewerbe, und in der ersten Regierung Ehard wurde er 1946 Wirtschaftsminister. 1947 wurde Erhard Honorarprofessor an der Staatswissenschaftlichen Fakultät
der Universität München, 1950 Professor in Bonn.
Ludwig Erhard ist der Schöpfer der Deutschen Mark, der D-Mark: Mit ihrem zeitweise fast legendärem Ruhm und mit der Schlagkraft der deutschen Industrie ist in allen Kontinenten sein Name verbunden. „Der Vater des deutschen Wunders“, des Wirtschaftswunders, so hat man ihn genannt: und überall, wo er auf seinen zahlreichen Auslandsreisen auftrat, in Nord- und Südamerika, in Asien und Afrika, in Europa, wurde und wird Ludwig Erhard als sichtbare Verkörperung der Stabilität der Bundesrepublik und der Dynamik der westdeutschen Wirtschaft begrüßt.
Es gehört zu eine' gewissen Tragik, daß dieser Mann in einem Augenblick ans Ruder des deutschen Staatsschiffes treten muß, in dem seine Partei, die Föderation CDU/CSU, in einer schweren Krise steht, die Deutsche Mark an der Überanstrengung durch die lange Konjunktur leidet, die Wirtschaft vor großen Problemen steht.
Zähigkeit ist diesem Manne eigen, die Fähigkeit zu überstehen, und der Wille, an seinen wirtschaftspolitischen Überzeugungen festzuhalten. Den Bundeskanzler Erhard erwarten in dieser Hinsicht bedeutende Auseinandersetzungen. Erhard hat kein Geheimnis daraus
gemacht, daß ihm die heutige Konstruktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als bereits viel zu sehr dirigiert, zentralisiert, büro-kratisiert und verplant erscheint. Erhard ist Anhänger der freien Wirtschaft, die klassischen englischen Freihandelspolitikern um die Mitte des 19. Jahrhunderts nähersteht als der moderne (und geschichtlich so alte) Dirigismus französischer Wirtschaftsplaner um de Gaulle. Erhard steht gefühlsmäßig den Engländern näher ah den Franzosen um de Gaulle; dies bedeutet nicht, daß er sich als Kanzler nicht um die jetzt schon traditionelle Freundschaft mit Paris bemühen wird. Wohl aber bedeutet dies, daß jene europäischen Staaten, die sich bisher nicht der EWG angeschlossen haben, den Wechsel im Bonner Kanzleramt mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen müssen.
Nichts berechtigt uns heute, Ludwig Erhard Prognosen zu stellen. Die aufrichtigen Freunde der Bundesrepublik Deutschland wünschen diesem Manne, der vierzehn Jahre als Bundesminister, dann (seit 1957) als Vizekanzler und Leiter des Wirtschaftskabinetts neben und unter Dr. Adenauer stand, alle guten Kräfte, derer er bedarf, heute schon, um im Herbst die volle Verantwortung als Kanzler übernehmen zu können.
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