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Erhard und der große Streik

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Seit dem 1. April 1963 gibt es in Westdeutschland zwei Fernsehprogramme. Die Erfinder des zweiten, von den Ländern betriebenen Programms brachten das Schlagwort vom „Kontrastprogramm“ auf. Sie konnten kaum ahnen, in welchem Umfang sich dieses Schlagwort in der Politik bewahrheiten sollte. Vor einigen Wochen war es Bundeswirtschaftsminister Professor Ludwig Erhard, der in einem Interview im Zweiten Programm die Entscheidung im Streit um die Kanzler-

nachfolge dadurch gebracht zu haben schien, daß er deutlich erklärte, er werde unter einem Nachfolger Adenauers, der nicht er sei, nicht mehr sein Amt als Wirtschaftsminister ausüben. Zur selben Zeit hatte Adenauer im ersten Programm einige belanglose Worte gesprochen. In der letzten Woche nun erschien der Kanzler auf dem Bildschirm des zweiten Programms und erklärte ohne viel Umschweife, daß er Ludwig Erhard zwar für einen guten Wirtschaftsminister aber nicht geeignet für den Kanzlerposten halte. Zur selben Zeit sprach Erhard freundliche Worte als Kanzler designatus. Dazwischen lag ein hartes Ringen, in dem der Parteivorstand der CDU gegen den Widerstand Adenauers die Nominierung Erhards zum Kanzlernachfolger durchgesetzt hatte. Was einige Tage der Weltpresse Schlagzeilen geliefert hatte, war durch das zweite Fernsehintermezzo wieder fragwürdig geworden. Die CDU mit ihrem eigenwilligen alten Mann ist beinahe wieder genau so weit wie vorher.

Zwei böse Jahre

Die Frage der Kanzlernachfolge, seit annähernd zwei Jahren verschleppt, hat die CDU in die schwerste Existenzkrise seit ihrem Bestehen geführt und ist nahe daran, eine Krise der deutschen Demokratie zu werden. Die Wahlen dieses Jahres in Berlin und Rheinland-

Pfalz brachten der CDU Einbußen, die niemand in diesem Ausmaß erwartet hätte und die einem Erdrutsch gleichkamen. In Berlin verlor die CDU ein Fünftel ihrer Stimmen, und in dem urkatholischen Rheinland-Pfalz trennen sie noch ganze drei Prozent von der SPD. Nicht zuletzt, um diese Serie von Niederlagen zu beenden, die allmählich die Hinterbänkler, früher Adenauers treueste Anhängerschar, rebellisch machte, hatte die Partei die Entscheidung für Erhard so rasch er-

zwungen. Die Wahlen in Niedersachsen am 19. Mai erlaubten keinen Aufschub. Die neueste Eskapade des Kanzlers stellt nun alles wieder in Frage. Es ist zwar kein Zweifel, daß sich die CDU gegenüber Adenauer schließlich doch durchsetzen wird. Aber der offen vom Kanzler geäußerte Zweifel an Erhards Fähigkeiten vermindert den Wert seiner Nominierung bei den Wählern.

Ungute Begleitmusik

Dazu kommt, daß der wider Erwarten in der Metallindustrie ausgebrochene Streiks für das Prestige des Wirtschaftsministers nicht ungefährlich war. Zwar ist Erhard daran unschuldig, aber es wird kaum ausbleiben, daß etwas davon an ihm hängen bleibt. Zumindest bringt es ihn in eine unangenehme Situation, wenn der Streik nicht zur Zufriedenheit beider Partner beigelegt wird. In ihm kommen Gegensätze zum Austrag, die sich nicht so leicht beschwichtigen lassen.

Die Arbeitgeber haben den Streik mit der Aussperrung beantwortet und damit kundgetan, daß sie den Kampf nicht scheuen. Diese Maßnahme wird in Deutschland zum erstenmal seit 1928 angewendet. Damals geschah sie im Zeichen der beginnenden Wirtschaftskrise und hat 1928 zu einer der empfindlichsten Niederlagen der Gewerkschaften geführt.

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