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Vernachlässigung des Privaten führt zur Zerstörung des Lebens

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Die „Internationale Pädagogische Werktagung”, ein angesehenes pädagogisches Forum, das zum 26. Mal in Salzburg stattfand, wählte sich heuer zum Generalthema „Bedrohung der Privatsphäre - Erziehung oder Manipulation in einer offenen Gesellschaft”. Vielleicht kam dieses Thema schon zu spät. Denn vollziehen die meisten Zeitgenossen ihr Leben nicht schon gänzlich öffentlich? Werden wir nicht alle bereits in einem beängstigenden Ausmaß geistig - soweit dieses Wort hier noch zutrifft - aus einigen .wenigen, übermächtig gewordenen Quellen gespeist und so in erschrek- kender Weise gleichgeschaltet? Gibt es für den einzelnen noch die Privatsphäre, die dadurch ausgezeichnet ist, daß selbstausgelöste Einflüsse wirksam werden?

In früheren Zeiten gab es ein gewisses Gleichgewicht zwischen öffentlichem und privatem Leben, heute schrumpft der private Bereich immer mehr zusammen, er verödet und wird, weil er in seiner Bedeutung nicht mehr erkannt wird, immer mehr von einer sich hemmungslos ausbreitenden Öffentlichkeit aufgesogen. Dem scheint zu widersprechen, daß heute die intime Zone des Menschen stärker denn je mit rechtsstaatlichen Mitteln abgesichert ist (Unverletzlichkeit des Hauses, Bewahrung des Postgeheimnisses, Abhörverbot bei Telephongesprächen, Datenschutz). Aber aller Schutz bleibt solange unwirksam, als der Mensch nicht selber die Würde und Wichtigkeit des privaten Bereichs erkannt hat und dafür einzutreten bereit ist. Vernachlässigung des Privaten führe zwangsläufig zur Zerstörung des ganzen - auch des öffentlichen - Lebens. Man müsse an der Wichtigkeit und Würde des Privaten festhalten. Das war die These von Prof. Dr. Otto F. Bollnow aus Tübingen. In vier Punkten faßte er das Wesen des Privaten zusammen.

• Räumliche Bestimmungen: Den Zugang zum Verständnis des Privaten gewinnt man am besten von den räumlichen Bestimmungen her. Der von Menschen gelebte und erlebte Raum gliedert sich in zwei konzentrische Bereiche: den engeren Bereich des Hauses - oder allgemeiner der Wohnung - und den weiteren Bereich der Umwelt. In das Haus kann sich der Mensch zurückziehen, wenn er seine Arbeit getan hat. Das Haus ist der Ort der Geborgenheit Es muß den Charakter der Wohnlichkeit haben. Das private Leben im Hause hat den Charakter der Heimlichkeit Dieses wichtige Wort darf aber nicht mißverstanden werden. Rilke sprach von den vertrauten, in das Leben einbezogenen alten Dingen, unter denen sich der Mensch wohl fühlt

• Haus-halten: Das Haus ist nicht nur ein räumliches Gebilde aus Stein oder Holz, sondern auch ein mit Leben erfüllter Organismus. Man spricht vom Haus-halten als einer besonderen Aufgabe, die dem Menschen in seinem Leben gestellt ist. Wenn man früher sagte, daß jemand ein Haus führt, dann dachte man nicht nur daran, daß er darin das Zusammenleben der Familie geordnet hatte, sondern daß er auch Gäste aufzunehmen gewillt war, so daß das Haus Sitz eines ausgedehnten geselligen Lebens war. Auch die Geselligkeit ist somit eine Lebensform des privaten Lebens. Man muß sich erst wieder darauf besinnen, daß die Geselligkeit eine eigene und eigengesetzliche Lebensform ist, die eine wichtige und notwendige Funktion im menschlichen Leben zu erfüllen hat und die als solche eine eigene Pflege erfordert. Die Freundschaft bezieht sich in einer sachlich nicht begründbaren Weise auf den ganz bestimmten einzelnen Menschen, sie ist exklusiv und schließt andere aus, ohne daß es dazu einer Rechtfertigung bedürfte. Sie ist im al- lerwörtlichsten Sinne privat und betrifft den Menschen in seinem innersten Kern. Die Würde des Privaten umschließt zugleich die Würde der Freundschaft

• Gemüt: Bollnow bezeichnete die seelischen Schichten, die im privaten Bereich zur Entfaltung kommen, zusammenfassend als das Gemüt. Leider ist heute das Verständnis dessen, was Gemüt ist, durch den abgenutzten Begriff der Gemütlichkeit erschwert Gemüt ist aber der eigentliche Ort der Menschlichkeit im Menschen. Die private Sphäre ist der Bereich - betonte Bollnow - „in dem sich die Kraft des Gemüts allein entwickeln kann, um sich dann allerdings über diesen engeren Bereich hinaus auszudehneri”. So erscheint der Bereich des Privaten als der Ort des Gemüts, als das Ursprünglichere, aus dem sich erst durch eine spätere Differenzierung der gesonderte Bereich des nur noch von sachlichen Bedürfnissen beherrschten öffentlichen, beruflichen und politischen Lebens abgesondert hat. Das dann aber in seiner Absonderung der Gefahr der Erstarrung und Veräußerlichung erliegt, wenn es nicht immer neu aus den Kräften des in der Verborgenheit des Privaten lebenden Gemüts gespeist wird. Die Pflege des Privaten ist somit keine private Angelegenheit, sondern gewinnt eine unmittelbare Wichtigkeit für das gesamte, auch für das öffentliche Leben, wie umgekehrt das Private zum „nur Privaten”, das heißt subjektiv Unverbindlichen zusammenschrumpft, wenn es nicht im lebendigen Austausch mit den Aufgaben des öffentlichen Lebens bleibt.

• Rolle: Die Funktion der Rolle im menschlichen Zusammenleben ist in den letzten Jahrzehnten eingehend erforscht worden. Der Mensch muß es lernen, den Anforderungen, die durch die Rolle an ihn gestellt sind, zu entsprechen. Die Rolle ist in einer spezifischen Weise dem Bereich der Öffentlichkeit zugeordiiet Im privaten Bereich, in der Familie, im vertrauten Freundeskreis, gibt sich der Mensch wie er ist. Da spielt er keine „Rolle”. Dieser Gesichtspunkt scheint von entscheidender Bedeutung zu sein. Solange der Mensch eine Rolle spielt, spielt er sie vor Zuschauern. Er formt sein Verhalten nach ihren Erwartungen. Im privaten Bereich ist das nicht so. Denn Familienangehörige und Freunde sind keine Zuschauer, sondern Zugehörige. Hier kann der Mensch einfach er selbst sein. Wenn sich das von der Rollenhaftigkeit gelöste Selbst-sein am reinsten und am ehesten im privaten Bereich entfaltet, so muß es sich dann zugleich auch in den Beziehungen des öffentlichen Lebens auswirken. Sobald es um die tieferen menschlichen Beziehungen geht, kommt es darauf an, die Masken- haftigkeit der Rolle zu durchbrechen und einfach da zu sein. Hier sei an das Wort des großen spanischen Dichters und Philosophen Unamuno erinnert: „Suche Rettung und Heilung von deiner Neigung, dich darum zu sorgen, wie du anderen erscheinst. Sorge dich nur darum, wie du Gott erscheinst.” Die Menschlichkeit eines Menschen beginnt erst jenseits der Rolle. Indem ich auf die Rolle verzichte, gebe ich mich deckungslos, so wie ich bin. Erst in diesem Wagnis bin ich letztlich ich selbst.

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