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Vom Landleben lernen?

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Die Lebens- und Wirtschaftsformen einer Gesellschaft sind einem steten Wandel unterworfen. In unseren Tagen ist diese Veränderung spürbar und erlebbar. Zunehmendes Umweltbewußtsein, die Alternativbewegung, die „Grünen" und die Stadtflucht sind einige Symptome, die neue Tendenzen anzeigen.

Die Fortschrittgläubigkeit und technisch-wissenschaftlicher Optimismus mit dem Ziel der Machbarkeit eines „Paradieses auf Erden" sind als Utopien entlarvt worden. Diese enttäuschte Hoffnung ist der Nährboden für Resignation, Passivität und Hilflosigkeit ebe*nso wie für Aggression, Kriminalität und Gleichmacherei.

Dieses Unbehagen in der Gesellschaft wurde in den letzten Jahren zunehmend durch Wissenschaft, Wirtschaft und Politik formuliert. Berichte des Clubs of Rome, politische Programme mit dem Slogan „Lebensqualität" und Bücher über die Sinnfrage des Menschen zeigen dies.

Ein interessantes Phänomen kann in diesem Zusammenhang beobachtet werden: Der Städter entdeckt wieder die Natur und das Leben am Lande. Ist es eine Flucht in eine anscheinend menschlichere Welt?

• Zuflucht in ein sinnvolleres Leben wird er jedenfalls erst finden, wenn er die geistige Herausforderung annimmt, die städtisch geprägten Bedingungen seines Lebens mit den notwendigen Gegebenheiten bäuerlichen Daseins zu vergleichen, um daraus für sich zu lernen.

Denn bäuerliche Lebens- und Wirtschaftsweisen unterliegen einer eigenen Gesetzmäßigkeit. Der Bauer und die Landwirtschaft konnte, sollte und wollte sich nicht in die Gesetzmäßigkeiten der Industriegesellschaft voll integrieren. Die Gründe dafür liegen wohl darin, daß das sogenannte kalkulierbare Erfolgssystem der Industrie sich nicht auf die Landwirtschaft und den bäuerlichen Familienbetrieb übertragen läßt. Bäuerliches Leben ist anders als städtisch-industrielles Leben.

..Bauerseinquot; unterliegt gewissen Ordnungen. Arbeits- und Lebensbedingungen werden bestimmt von der Abhängigkeit von Natur und ihrem Rhythmus, von der Arbeit mit dem Lebendigen, der Bindung an Boden und Land und der Einheit von Arbeits- und Lebensraum. Um diesen Anforderungen gerecht werden zu können, sind Grundhaltungen notwendig:

•nbsp;die persönliche Bindung und Beziehung zum Besitz und dessen Struktur,

•nbsp;Anerkennen des Prinzips des nachhaltigen Wirtschaftens und der Gemeinsamkeit von Familie, Betrieb und Haushalt.

•nbsp;Bereitschaft zum Gestalten, Erhalten und Verantworten einer möglichst naturnahen Umwelt.

•nbsp;Ehrfurcht vor dem Lebendigen und Annehmen der nicht beeinflußbaren Bedingungen und Abhängigkeiten durch das Arbeiten in und mit der Natur und

•nbsp;das Bewußtsein um immaterielle, ideelle und kulturelle Werte bäuerlichen Lebens.

Aus diesen Grundhaltungen läßt sich Sinngebung für das Leben als Bauer und Bäuerin ableiten. In der Zeit des „existentiellen Vakuums" mit den zunehmenden Fragen nach dem Sinn des Lebens und einer Suche nach neuen Werten muß jeder die Herausforderung annehmen, sein eigenes Leben zu überdenken. Ähnlich den im bäuerlichen Leben zum Teil naturgegebenen notwendigen Bedingungen muß der Städter wieder lernen:

•nbsp;mehr Risikobereitschaft zu tragen,

•nbsp;mehr die Höhen und Tiefen des Lebens auszuhalten und sich nicht etwa mit Psychopharmaka darüber hinwegzutäuschen und

•nbsp;die eigene Unvollkommenheit und gegebenen Grenzen zu akzeptieren.

Für die industriejle Gesellschaft in der Krise gilt daher, daß der Städter in der kritischen Auseinandersetzung mit ländlichen Lebensformen lernen kann.

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