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Warum baute man Pyramiden?

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Vor genau zehn Jahren benützte ein. Physiker einen Winterurlaub, um als krasser Außenseiter auf dem Gebiet der Ägyptologie zu dilettieren. Diese Wihtertage des Jahres 1965, in denen der deutsche Planck- und Ein- steinschüler Kurt Mendelssohn, dem einst die erste in England durchgeführte Heliumverflüssigung gelungen war, plötzlich auf wackligen Leitern in der Finsternis der „Knickpyramide” von Dahschur herumkroch und mit dem Gefühl „irgend etwas stimmt hier nicht…!” vor den Resten der Pyramide von Meidum stand, erwiesen sich .um vieles später im Rückblick, als wahre Stemstun- den der Ägyptologie. Denn diese verdankt Kurt Mendelssohn die bislang geschlossenste, fundierteste (und wohl auch eleganteste) Theorie über Ursprung, Baugeschichte und Zweck der ägyptischen. Pyramiden.

Mendelssohns Fragestellung, wie är sie in seinem Buch „The Riddle of the Pyramids” (Übersetzung im Gustav Lübbe Verlag, „Das Rätsel der Pyramiden”, DM 58.-) wieder- gifet: „Nicht ihre Größe allein faszinierte mich, nicht ihr hohes Alter, sondern die Kombination von bei- dem. Hier hatten Menschen im Morgendämmer unserer Kultur, fast noch an der Schwelle zwischen Vorgeschichte und Geschichte, eine Reihe so gigantischer Denkmäler errichtet, daß nichts von allem, was seither in unserem gesamten Kul- türkreis auf baulichem Gebiet unternommen wurde, ihnen auch nur entfernt gleichkommt. Urplötzlich wurde mir klar: Hier, auf dem Wüsten plateau über dem Nilstrom, hatte der Mensch sich seinem ersten großen, großangelegten technischen Abenteuer hingegeben. Und da es keim Modell dafür gab, an dem er sich hätte orientieren können, müssen Planung und Organisation der Arbeit bewundernswert gewesen sein, um einen derart erstaunlichen Erfolg zu gewährleisten. Was stand hinter all dem und wie war man auf ein solches Bauvorhaben verfallen?”

Weniges, waa Menschen geschaffen haben, hat die menschliche Phantasie in solchem Maß angeregt wie die Pyramiden. Napoleons Zug nach Ägypten rückte sie in das Blickfeld der europäischen Gelehrtenwelt. Im Gegensatz zum Wildwuchs der Pyramidenmystik, die in dem letzten hundert Jahren die absonderlichsten Blüten trieb, bat die offizielle Ägyptologie mehr Fragen als Antworten zu bieten. Einige Pyramiden waren zweifellos Königsgräber. Andere enthielten leere „Grab”-Kammem, in denen sich niemals Sarkophage aus Stein be funden haben können. Jahrzehnte angestrengten Brütens über diesem Problem brachten die Ägyptologie einer Antwort auf die Frage, wofür die Pyramiden denn sonst noch verwendet worden sein könnten, nicht näher.

Wie so viele Erleuchtungen, vollzog sich auch diese in mehreren Stufen, die hier nur in äußerster Verknappung dargestellt werden können. Die entlegenste und unbekannteste aller Pyramiden, die von Meidum, ist zugleich jene, die die Widersprüche, an, denen die Ägyptologie seit langem laboriert, am deutlichsten hervortreten läßt. Daß gerade sie, infolge ihrer Entfernung von den anderen Pyramiden, am seltensten von Ägyptologen besucht wurde, könnte einen Hauptgrund für die späte Lösung des Pyramidenproblems darstellen.

Denn die Pyramide von Meidum unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von allen anderen Pyramiden. Eher handelt es sich bei ihr um einen steilen, abgestuften Pyramidenstumpf, der, wie man will, auf einem Schuttkegel steht oder aus einem Schuttkegel ragt. Die langgehegte Annahme, die Pyramide von Meidum sei, so wie sie sich heute darstellt, das Werk von Steimräu- bem, die den äußeren Steinmantel der Pyramide gründlich abgeräumt, das Brauchbare abtransportiert und den Rest liegengelassen hätten, erweist sich bei näherer Betrachtung als einer jener in der Wissenschaftsgeschichte häufigen Fehlschlüsse, die, von Generation zu Genration unbesehen weitergereicht, immer älter, ehrwürdiger und unangreifbarer werden.

Auch der von Betriebsblindheit und falschem Respekt vor angejahrten Meinungen freie Außenseiter hatte den entscheidenden Einfall erst fast zwei Jahre später, daheim in England, als eine rutschende Abraumhalde eine Schule verschüttete. Die blitzartige Erkenntnis eines schöpferischen Augenblickes wurde später an Hand zahlloser Details erhärtet: Die Pyramide von Meidum wurde keineswegs lange Zeit mach ihrer. Errichtung zerstört, sondern sie ist das tragische Denkmal der möglicherweise größten Baukatastrophe in der Geschichte. Mehrere Faktoren wirkten zusammen: Die Erweiterung der Abstände zwischen den für die innere Struktur aller ägyptischen Pyramiden charakteristischen inneren Strebemauem, nachlässigere Bearbeitung der Steine in Unkenntnis der damit heraufbeschworenen Gef ahren, vor allem aber der Umstand, daß ursprünglich ein kleineres Bauwerk ins Auge gefaßt und dessen endgültige Dimension während des Bauvorganges in mehreren Stufen erweitert wurde, Mendelssohn weist nach, daß die „Außenmauem” einer frühen Bauphase bereits zum Teil poliert waren, als man sich zum Weiterbauen entschloß. Die Pyramide war, dies Mendelssohns in chronologischer Folge erste Erkenntnis, noch nicht vollendet, als 250.000 Tonnen Kalkstein des äußeren Mantels ins Rutschen gerieten, wobei Tausende von Menschen in die Tiefe gerissen wurden.

Nun wechselt die rund 50 Kilometer nördlicher gelegene sogenannte „Krtidcpyramitde” von Dahschur etwa in halber Höhe plötzlich und sehr zum Nachteil ihrer Ästhetik ihren Böschungswinkel von 54,5 auf 43,5 Grad. Dieses Faktum wurde Mendelssohn zum Ausgangspunkt seiner zweiten Annahme, daß die Pyramide von Dahschur halbfertig war, als sich die Katastrophe von Meidum ereignete, und daß man,. nachdem man den Böschungswinkel des fertiggestellten Teiles nicht mehr ändern konnte, wenigstens im oberen Teil vorsichtiger, also mit einer ^geringeren Steilung, weitergehaut.bat. Der nächste Pyramidenbau, die „Rote Pyramide” von Dahschur, wird gänzlich mit dem offensichtlich für sicherer. angesehenen Böschungswinkel von 43,5 Grad errichtet. Erst bei ihren weiteren Bauwerken gingen die Pyramidcnfoaumeister wieder zum alten Böschungswinkel von 54,5 Grad über, wendeten nun aber ein ganzes Bündel bautechnischer Vorsichtsmaßnahmen an, die auch heute noch von einer geradezu panischen Angst vor dem Abrutschen der aufgetürmten Steinmassen künden. Die tadellose würfelförmige Zurichtung der Steinblöcke etwa bei der Cheopspyramide ist nur eine dieser Konsequenzen aus dem Schock des Pyramideneinsturzes von Meidum.

Ein gutes Jahrhundert hat das „erste große, großangelegte technische Abenteuer der Menschheit” gedauert. So unvermittelt, wie die alten Ägypter vor mehr als 4000 Jahren mit dem Bau von Pyramiden begannen, so unvermittelt hörten sie damit plötzlich, auch wieder auf. 25 Millionen Tonnen Kalkstein, in etwas mehr als 100 Jahren aufgetürmt — selbst für Königsgräber erschien Mendelssohn dieser Aufwand einfach zu groß, um so mehr als sich Ägyptens Könige ja vor und nach dem Pyramidenzeitalter mit wesentlich bescheideneren Grabstätten begnügten. Auf der Suche nach einem glaubwürdigeren Zweck dieses Unternehmens kam ihm das Überlappen der Bautätigkeit an den Pyramiden von Meidum und Dahschur zustatten.

Wiederum muß in sträflicher Verknappung referiert werden — aber „Das Rätsel der Pyramiden” ist ohnehin eines jener ganz seltenen Bücher, die man, im wahrsten Sinn eines abgegriffenen Wortes, gelesen haben muß, weil es, erstens, als Paradebeispiel für interdisziplinäre Problemlösung (schon wieder so ein abgegriffener Modeterminus) in die Wissenschaftshistorie eingehen dürfte, und weil hier, zweitens, wieder einmal von der angeblich so trockenen Disziplin namens Ägyptologie ein starker, die Gegenwart betreffender Impuls ausgeht.

Was Mendelssohn, nach ausführlicher Darstellung der Wege, auf denen er dahin gelangte, knapp und klar als seine wesentliche Erkennts nds herausarbeitet, ist im Stenogrammstil zusammengefaßt etwa folgendes: Ober- und Unterägypten waren zwar seit einem Jahrhundert unter der Doppelkrone des „geeinten Reiches” zusammengefaßt, tatsächlich aber ein innerlich zerrissenes und an seiner Zerrissenheit laborierendes Gebilde, als ein genialer Baumeister namens Imhotep, der nach seinem Tod vergottet wurde, den Schritt von Flachgrab, der Mastaba, zur Pyramide, vorerst der Stufenpyramide, vollzog. Bei der Errichtung eines Grabmals für König Djoser stellten sich ihm Probleme wie keinem Baumeister vor ihm. .Er löste nicht nur technische, sondern vor allem organisatorische Probleme, als er Zehntausende von Menschen auf einer Baustelle zusammenzog, wurde aber vom sozialen und politischen Effekt seines Projektes sicher selbst überrascht. Der Pyramidenbau erwies sich nämlich als Schauplatz der Begegnung von Menschen aus allen Teilen des Reiches und damit als Motor der Integrierung des Reiches — als Werkzeug der ersten Staatswerdung in der Geschichte der Menschheit. Dies vor allem deshalb, weil diese Menschen nur drei Monate im Jahr beim Pyramidenbau Zusammenarbeiten, den Rest ihrer Zeit aber auf ihren Feldern verbrachten.

Es war der politische Effekt des Pyramidenbaues, der dazu führte, daß man ein Interesse hatte, immer mehr Menschen zur Arbeit an Pyramidenbauten zu holen— und daher immer größere Pyramiden zu bauen. Je höher eine Pyramide wuchs, desto kleiner wurde ihre Plattform und damit der Raum für verfügbare Arbeitskräfte und die Menge des in einer Saison aufgetürmten Materials. Deshalb das Überlappen der Projekte, das Umdirigieren freigesetzter Arbeiterheere zum nächsten Pyramidenbauplatz.

Der Pyramidenbäu bedeutete eine politische und organisatorische, aber keine technische Revolution — der Stein als Baumaterial und die zu seiner Bearbeitung notwendigen Geräte und Verfahren waren längst bekannt. Neu war der Umfang: „Es war eine Frage der Dimension”. Mendelssohn: „Besonders verblüffend ist dabei; Es fehlt einfach jede Vorstufe, jede Vorbereitungsphase. Man gewinnt den Eindruck, Ägypten habe gleichsam im Handumdrehn die Wandlung von einem Land mit mehr oder weniger lockeren Stammesverbänden hin zu einer hochdifferenzierten Gesellschaftsform vollzogen — einer Gesellschaftsform, die imstande war, atemberaubende Gemeinschaftsleistungen zu vollbringen.”

Die Ägypter erwarben die für den Pyramidenbau nötigen, neuen organisatorischen Fähigkeiten im, wie man im heutigen Management-Jargon sagen würde, „training on the job”. Dabei kam der Pyramide als Hauptziel der Gemeinscbaftsleistung und zentrales achitektoniisches Ausdrucksmittel der Umstand, zugute, daß die — nach Mendelssohns Berechnung — 70.000 bis 140.000 Menschen, die, jeweils drei Monate pro Jahr, permanent auf den Pyrami- denfoaustellen arbeiteten, zu einem hohen Prozentsatz ungelernte Arbeitskräfte sein konnten. Während die zu den Pyramidenanlagen gehörigen Taltempel, deren Errichtung einen hohen Prozentsatz, hochqualifizierter Steinmetze und Bildhauer erforderte, im Lauf des kurzen Pyramidenzeitalters zurückitraten, wuchsen die großteils von ungelernten Arbeitskräften errichteten Pyramiden.

Als das Reich endgültig geeint und die Stammesverbände in der völlig neuen, differenzierten Struktur eines neuartigen sozialen Gebildes namens Staat integriert waren, endete der Pyramidenbau abrupt, wenn auch nicht ebne Auseinandersetzungen mit den, wie man heute sagen würde, Lobbys des gewaltigen Untemehmens, die in den Tempeln von Heliopolis beheimatet waren: „Pyramidenbau, wie wir es sehen, aus praktischen, aus politischen und wirtschaftlichen Gründen paßt, so scheint es, sehr viel nahtloser in das Bild dieser nivellierten, gleichzeitig aber hochentwickelten Gemeinschaft — besser jedenfalls als die Vorstellung, man habe all diese Verschwendung betrieben, nur um einigen Gottkönigen Gräber gigantischen Ausmaßes zu errichten. Die Pyramiden waren nicht Selbstzweck, sondern riesige Denkmäler 1 eines Ziels, das man erreichte, indem man sie baute: die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung. Diese riesigen Steinhaufen markieren die Stelle, wo der Mensch den Staat erfand!”

Ein politisches Geheimnis also anstatt der sattsam bekannten .mathematischen Geheimnisse”, die sich to dieser Analyse eines Physikers, der einen fruchtbaren Ausflug io die Ägyptologie unternahm, teils überzeugend aufklären, teils in Nichts auf lösen.

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