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Was ist „frei“?

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Die Frage der Freiheit ist an der Tagesordnung. Weil Freiheit nicht selbstverständlich und ständig durch wirkliche Verhältnisse bedroht ist, wird sie immer an der Tagesordnung bleiben. Freiheit mußte erkämpft werden, und überall, wo sie eingeschränkt oder unterdrückt wird, findet der Kampf für die Freiheit statt.

Man spricht von der „freien Welt“ und meint damit Staaten, die in ihrer Rechtsordnung die Grundsätze der Freiheit anerkennen. Es bleibt jedoch immer eine Lücke zwischen den erhabenen Prinzipien, die vom freiheitlichen Rechtsstaat anerkannt werden, und der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit, in der Einzelne, Gruppen, bestimmte menschliche Haltungen und Tätigkeiten in ihrer Freiheit beschränkt werden. Gewiß trifft es zu, daß die Freiheit der einen nicht durch die Freiheit der anderen beeinträchtigt werden darf und daß daher eine sogenannte „schrankenlose Freiheit“ weder möglich noch zulässig ist. Aber es ist ein weiter Weg von den faktisch eingeschränkten Freiheiten der Menschen zu solchen, die man als Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit anerken-i nen muß.

Eine Gesellschaft, wie immer j sie beschaffen sein mag, ist als | Gesellschaftsordnung letzten Endes nicht tolerant, denn sie fürchtet für .ihren Bestand. Eine Gesellschaft gehorcht einer vorgesetzten Sitte, die nicht unbedingt auch sittlich zu sein braucht. Denn Sitte beruht auf hergebrachten Vorstellungen, Regeln und Vorurteilen. Wer diese Sitten und Vorurteile, sie mögen bürgerlicher oder anderer Art sein, in Frage stellt, wird von der Gesellschaft nicht gern gelitten oder sogar diskriminiert. Gesellschaftliche Diskriminierung aber, selbst wenn das Individuum sich keines Verstoßes gegen die Rechtsordnung schuldig macht, und auch, wenn es von den Behörden und Gerichten nicht zur Rechenschaft gezogen wird, ist eine faktische Freiheitsberaubung. Sie ist auf alle Fälle eine Benachteiligung, die ungünstige Folgen persönlicher, beruflicher oder wirtschaftlicher Art haben kann.

Die Grundsätze der Menschenrechte, zu denen sich der Rechtsstaat bekennt, verhindern nicht, daß es Ungleichheiten, einschränkende Vorschriften, auch wirtschaftliche Benachteiligungen gibt. Im öffentlichen Recht ist es eine kontroverse Frage, wie weit durch administrative Verordnungen und polizeiliche Vorschriften der Staat die Freiheit der Bürger beschneiden darf. Es liegt in der Natur der Dinge, daß Verwaltung und Polizei ihre Macht zum Nachteil der Bürger auszudehnen bestrebt sind. Das Verhältnis zwischen den Prinzipien des Rechtsstaates und seiner Wirklichkeit gleicht einem Trichter, der oben weit geöffnet ist, unten aber eng wird, und durch den nur noch ein schmaler Strahl von Freiheit und Gleichheit rinnen kann.

Der demokratische Rechtsstaat beruht auf dem Mythos der Gleichheit. Obschon Gleichheit in jeder Gesellschaftsordnung ein Mythos bleiben wird, muß ein an die Menschenrechte glaubender Bürger für diesen Mythos kämpfen. Sein Kampf wird ewig dauern, denn er muß unablässig bestrebt sein, die in der gesellschaftlichen und staatlichen Wirklichkeit vorhandenen

Schranken abzutragen und ein größtmögliches Maß an Recht, Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen. Gesellschaft und Staat werden immer seine gegnerischen Partner sein.

Es ist nicht unbedenklich, wenn der Gesetzgeber die Freiheit auf verschiedenen Gebieten des menschlichen Lebens und der beruflichen Tätigkeit zu kodifizieren unternimmt. Denn selbst wenn das Gesetz Freiheiten verankern will, wird eine gesetzliche Regelung unvermeidlicherweise diese Freiheit begrenzen. Und bei der Interpretation dieser Gesetze durch Behörden und Gerichte wird meistens eine einschränkende Auslegung stattfinden. Gesetz meint vor allem Ordnung, die Freiheit kommt dabei weniger gut weg. Staatliche Ordnung und Sicherheit sind wohl unerläßlich, aber sie liefern den Behörden, der Polizei und den Gerichten Vorwände zur Überwachung und Bedrückung der Bürger. Ganz abgesehen davon, daß Mächtig und Schwach, Reich oder Arm auch Unterschiede von Freiheit und Unfreiheit zur Folge haben. Es gibt zahlreiche Beispiele von kontroversen Problemen menschlicher Freiheit. Sie aufzuzählen, würde zu weit führen. Grundsätzlich gilt, sich Rechenschaft davon abzulegen, daß auch der Rechtsstaat und die Demokratie mit Problemen der Freiheit und Gleichheit ringen müssen.

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