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Gefährliche Humanität

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Auch hierzulande träumt man von der „gefängnislosen Gesellschaft“. Eine solche Utopie geht aber an der Realität wie am Hauptproblem eines humanen Straf rechts vorbei.

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Auch hierzulande träumt man von der „gefängnislosen Gesellschaft“. Eine solche Utopie geht aber an der Realität wie am Hauptproblem eines humanen Straf rechts vorbei.

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Jede Strafrechtsordnung ist tendenziell eine Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte: sie schreibt notwendigerweise Verhaltensweisen vor. In ihr werden Strafen auferlegt und werden Mittel zur Durchsetzung dieser Strafen aufgezeigt.

Aus dem Blickwinkel des einzelnen, der „Opfer“ des Strafvollzugs wird, bleibt selbst die „gerechteste“ Strafe eine Einschränkung seiner Persönlichkeitsrechte. Ein Strafrecht, das auf der einen Seite den Menschen und die Allgemeinheit schützt und auf der anderen Seite nicht in die Persönlichkeitsrechte des Täters eingreift, weil man die Strafen oder die Ursachen des Verbrechens abschaffen will, ist und bleibt eine Utopie.

Wie kann ein politisch geordnetes System humane Werte (Persönlichkeitsrechte des einzelnen und Interessen der Allgemeinheit) verwirklichen, ohne bei deren Durchsetzung die Persönlichkeitsrechte des Täters fundamental zu verletzen? Wo würde die „humane Realität“ eines möglichst nicht in die Persönlichkeitsrechte des Täters eingreifenden Strafrechts hinführen? Kann man dem „geordneten Rechtsstaat“ einen Staat entgegensetzen, der nur auf Sicherung der Menschenrechte fußt und nur das Recht auf Individualität sichert?

Man muß die Konsequenzen seiner Reformgedanken zu Ende denken: man muß ein Bild entstehen lassen, in dem die Denkbarkeit als realistische Möglichkeit dargestellt wird. Ein Bild, in dem der Blick auf die Wirklichkeit nicht verstellt ist, in dem noch klar zu erkennen ist, daß die Strafnormen in der Regel Schutz von Persönlichkeitsrechten beinhalten.

Ein realistisches Bild des Strafrechts will Ausgewogenheit erreichen. Man kann nicht nur einseitig an die Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Täters denken. Der Verletzte und die Gesellschaft müssen auch bedacht werden.

Der Kampf um den Schutz der Persönlichkeitsrechte im Strafrecht muß folglich im breiten Maße nicht nur ein Kampf um ideale

Werte, sondern um denkbare, die Menschenwürde wahrende, realisierbare Werte sein. Die Flucht aus der Wirklichkeit kann Züge annehmen, die jeder Grundlage einer Rechtsordnung widersprechen, die schließlich nur die Folge eines romantischen und nicht eines juridischen Denkens sind.

Der Grundsatz: „Uns ist nicht am Wohl der Rechtsordnung gelegen, uns interessiert einzig und allein die Wahrung der Menschenrechte“ ist genauso abzulehnen wie der entgegengesetzte Grundsatz, der nur das Wohl der Ger meinschaft im Auge hat und eine straffe Rechtsordnung als oberstes Ziel der Gesellschaftsordnung sieht, dem die Individualrechte unterzuordnen sind. Beide , Grundeinstellungen führten in der Praxis unseres Jahrhunderts zu Katastrophen.

Autorität, Ordnung, Einreihen des Menschen mit nur funktionaler Bedeutung in die Gemeinschaft waren die Grundlagen, die es in diesem Jahrhundert den Diktatoren ermöglichten, die Straftat als reinen Ungehorsam gegenüber der Norm anzusehen und auf diese Weise das Strafrecht nach ihren „Gesetzen“ zu beugen. Sondergerichte und Massenhinrichtungen waren die Zeichen dieser angeblich rechtlich geordneten Gesellschaft. Freiheit und Unabhängigkeit des individuellen Denkens konnten zwar nicht ausgemerzt werden, aber es gelang, sie zu unterdrücken.

Freiheit der Instinkte?

Die Kehrseite der Medaille ist die Auflehnung gegen jede strafrechtliche Ordnung unter dem Slogan der totalen Freiheit und des Willens, sich vor keiner Autorität zu beugen. Von manchen wird dieses utopische Denken heute noch zu den Grundkatalogen demokratischer Tugenden gerechnet. Diese Bewegung wollte den Menschen in die Freiheit seiner Instinkte rückführen, aber sie hat in ihren extremen Auswirkungen zum Terrorismus geführt.

So gelangt man immer mehr zur Uberzeugung, daß in unserer demokratischen Rechtsordnung zwischen Strafrecht und Menschenrecht im Sinne eines humanen Realismus eine Konvergenz gefunden werden muß. Um diese zu verwirklichen, müßte allerdings den Menschenrechten im Strafrecht viel mehr Platz eingeräumt werden als dies derzeit der Fall ist.

Und vor allem sollte ein Weg gefunden werden, um den Menschenrechten im Strafrecht weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Darin liegen die große Schwierigkeit und die Uberforderung unserer Zeit.

Der Autor ist Professor für Rechtswissenschaft und Abgeordneter sowie Vorsitzender des Justizausschusses im italienischen Abgeordnetenhaus in Rom. Der Beitrag ist ein Auszug eines Referats im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach 1985 zum Thema „Justiz und Menschenrechte“.

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