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Wickelkinder des Wohlstands

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Terror immer wieder, aber gleichzeitig auch der Ruf nach Gewaltfreiheit und Abrüstung. Wohin steuert unsere Gesellschaft? Geht alle Orientierung verloren? Und die Freiheit dazu? Zwei pointierte Formulierer wollen uns wachrütteln …

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Terror immer wieder, aber gleichzeitig auch der Ruf nach Gewaltfreiheit und Abrüstung. Wohin steuert unsere Gesellschaft? Geht alle Orientierung verloren? Und die Freiheit dazu? Zwei pointierte Formulierer wollen uns wachrütteln …

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In seinem Essay über „das Wesen gesellschaftlicher Krisen" schrieb vor etwa 50 Jahren der spanische Philosoph Ortega y Gasset:

„Die Generation ist mit der Struktur des menschlichen Lebens in einem bestimmten Augenblick identisch. Man kann nicht versuchen, zu erfahren, was wicklich in diesem oder jenem Zeitpunkt geschah, wenn man nicht vorher feststellt, welcher Generation dieses geschah; d. h. innerhalb welcher Form menschlicher Existenz es sich ereignete. Ein und dasselbe Ereignis, das zwei verschiedenen Generationen zustößt, stellt eine ganz verschiedene vitale und deshalb historische Tatsache dar."

Auch amerikanische Wissenschaftler sind zu dem Ergebnis gekommen, daß verschiedene Generationen auf unterschiedlichen „Realitätsebenpn" (Mannheim) leben können. Offenbar neigen wir Menschen dazu, so meint der Amerikaner S. M. Lipset, „in später Kindheit oder früher Jugend einen bestimmten Bezugsrahmen auszubilden, an dem weitere Erfahrungen gemessen werden", so daß die ersten prägenden politischen Erfahrungen die wichtigsten sind.

1970 schrieb Lipset: „Gegenwärtig bewegt sich in den USA eine radikalere Studentengeneration allmählich auf die unteren und z. T. höheren Ränge wichtiger Gesellschaftskreise zu. Es ist deshalb wahrscheinlich, daß die heutige Generation radikaler Universitätsstudenten auch in 10,20 oder 30 Jahren in vielen Ländern auf die große Politik einwirken wird. Ihre Eliten werden verhältnismäßig viel mehr Liberale oder Linke aufweisen als heute ; und deren Bild von der USA und ihrer Rolle in der Welt wird sich sehr von dem früherer Generationen unterscheiden."

Offenbar kann die Vorprägung durch Generationserfahrung aber auch eine Generation überspringen, indem die Eltern ihre Vorprägung an die Kinder weitergeben.

„Politische Generationen" tauchen also manchmal zweimal auf, erstens mit der eigenen Geburt, zweitens durch den Einfluß auf ihre Kinder, denen sie ihre Ideale vermitteln, welche diese dann an Stelle der Eltern in die Tat umzusetzen versuchen.

So wurde es nach dem Krieg bei uns zu einer Art Gesellschaftsspiel des^gu-ten Tons, keinen Zweifel über die eigene Distanz zu jeder Abart eines totalitären Systems aufkommen zu lassen.

Dabei fielen wir dem ewigen menschlichen Irrtum zum Opfer, zu glauben, das Entgegengesetzte eines überwundenen Systems müsse von allen Mängeln frei sein.

Unsere politische Führung wurde immer unfähiger, zu erkennen, daß gerade in der großorganisierten Welt unserer Wirtschaftsgesellschaft die libertine Freiheit des Tun- und Lassen-Kön-nens sehr bald wieder verlorengehen muß. wenn wir nur ihr zugewandt sind; daß wir dann ohne Verständnis bleiben, was um uns herum vor sich geht und unter die Herrschaft sozialer Massengesetze, wirtschaftlicher Mechanismen oder sogar wieder unter die Gewalt totaler Systeme geraten müssen.

Vielleicht hätte man in den 60er Jahren mit einem Abflauen dieser psychologischen Dialektik und mit einer Bewältigung des totalitären Schocks rechnen können, wenn nicht die „anarcho-liberalen und neomarxistischen Wik-kelkinder" in den Jahrgängen der Twens und Teens als Träger der Jugendrevolte aufgetaucht wären.

Nun wären, rosa- und rotgefärbte „Wickelkinder" in unserer Öffentlichkeit wohl kaum so dominant geworden, wenn sie nicht auch und häufig vornehmlich verwöhnte und erfahrungsarme Wohlstandskinder gewesen wären und überdies mit einer älteren Generation zu tun gehabt hätten, die, durch das Doppelerlebnis der Nazikatastrophe und des Wirtschaftswunders verwirrt, in ihrer Urteils- und Reaktionsfähigkeit weitgehend behindert war.

Diese Generation war nicht in der Lage, der nachfolgenden die notwendige Orientierüngshilfe zügeben. Statt dessen erhielten Intellektuelle, die infolge persönlicher Anpassungsschwierigkeiten es nicht schafften, selbst erwachsen zu werden, Einfluß besonders

auf die jüngeren Jahrgänge und bestimmten mit deren Hilfe den Zeitgeist, indem sie voreilig nach Teenagermanier Fortschritt mit Maximierung von Freiheit und Gleichheit und mit Minimierung von Ordnung und Kontrolle gleichsetzten.

Die Jahrgänge, die nichts als eine Wohlstandsgesellschaft am eigenen Leibe erfahren haben, leben wie Alice im Wunderland. Für sie gibt es keine Sachzwänge mehr, die man respektieren muß. Alles gilt für politisch machbar. Sie glauben, moralisierenden Überschwang beliebig mit opportunistischer Anpassung verbinden zu können, und bemerken nicht, daß es gerade die Vernachlässigung von Sachzwän-gen ist, die Katastrophen unausweichlich macht.

Unsere Zukunft wird dadurch bedrohlicher und ungewisser als nötig. Wir werden mit ihren Problemen nur fertig werden, wenn unsere „politischen Generationen" durch ihre Vorprägung nicht bereits zu Marionetten geworden sind, die jede Lernfähigkeit verloren haben.

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