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Blick über den Rhein

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Es gibt eine entscheidende Voraussetzung für die Gewinnung eines ungetrübten Bildes französischer Willensbekundungen in der gegenwärtigen Krisenperiode: Man darf sich nicht zu sehr auf Pressestimmen und öffentliche Diskussionen stützen. Sie vermitteln in der Regel ein unverbindliches Sammelsurium von gezielten propagandistischen Absichten, unverbindlichen individuellen Meinungsäußerungen und tendenziös gefärbten Kommentaren, die parteipolitische Grundhaltungen oder wirtschaftliche Gruppeninteressen widerspiegeln. Selten hat das „Background”, das heißt: das Wissen um die Haltung und Meinung wirklich qualifizierter Persönlichkeiten für den um Sachlichkeit und Pragmatik bedachten Chronisten die Bedeutung gehabt, die es heute annimmt, wenn auch gewiß nicht in Abrede gestellt werden soll, daß das empirische Wesen und die methodische Sprunghaftigkeit des Elysée eine gültige Synthese außerordentlich erschweren.

Der Weg in die Sackgasse

Auf der anderen Seite ist in diesen Wochen offenbar geworden, daß das ständige Lavieren Bonns zwischen Washington und Paris, ohne ernsthaftes Bemühen um eine große, für beide westlichen Partner annehmbare und im objektiven Sinne konstruktive Konzeption notgedrungen eines Tages in die Sackgasse führen müßte. Nach französischer Überzeugung — und das ist nicht allein die Überzeugung bedingungsloser Anhänger des Generals — ist dieser Weg in die Sackgasse bereits durch die deutsche Präambel zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag betreten worden.

Bei der Betrachtung der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich und der internationalen Aktivität jedes der beiden Partner gegenüber Drittländern seit dem Abschluß des Vertrages kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das eigentliche Anliegen des Generals, primär streng nationalen Interessen und erst in zweiter Linie einer politischen westlichen Solidarität zu dienen, in Bonn vielfach übersehen oder zumindest gröblich unterschätzt wurde. Man hat sich ganz offensichtlich über die Tatsache hinweggesetzt, daß die Annäherung an Deutschland in den Augen de Gaulles ein Ausweichgleis war, nachdem sein Traum eines westlichen Dreierdirektoriums am angelsächsischen Widerstand gescheitert war. Die Freundschaft mit Deutschland diente ihm in gleicher Weise als Druckmittel auf London und Washington, wie ihm der einstige Ver trag mit Moskau zur Stärkung seiner Verhandlungsposition gegenüber der britischen und amerikanischen Regierung gedient hatte.

Gleichzeitig erhoffte er eine gewisse politische „Neutralisierung” des erneut Gestalt gewinnenden Faktors Deutschland durch vertragliche Bindungen, die seinem Land die Stellung des Primus inter pares sichern sollten. Er war sich dessen bewußt, daß die biologische, wirtschaftliche und militärische Erstarkung des östlichen Nachbarn nach seinem tiefen Fall ungezählten Franzosen schlaflose Nächte bereitete. Deshalb konnte er bei seinem Versuch einer Errichtung der kontinentalen Vormachtstellung Frankreichs, deren Voraussetzung das von Frankreich gesteuerte Tandem Bonn-Paris bilden sollte, Zumindest mit der Zustimmung derjenigen Franzosen rechnen, die ein Gelingen des Experiments für nicht ausgeschlossen hielten. Gestützt auf seine persönliche Autorität im eigenen Lande, übernahm er als Empiriker mit der Deutschlandaktion kein übermäßiges Risiko, zumal er für den Fall eines Mißlingens des Versuchs von Anfang an eine grundlegende Änderung seiner Linie — im Augenblick einer geeigneten internationalen Konstellation — einkalkuliert haben dürfte.

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