Frankreich - Ein Gruppe Demonstranten. Es sind Fahnen und Schilder mit "Justice for Nahel" zu sehen. - © Foto: IMAGO / ABACAPRESS

Was geht in Frankreich vor?

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Das Erbe der Kolonialkriege, stadtplanerisches Versagen und ein fragwürdiges Polizeikonzept: Über die strukturellen ­Ursachen der jüngsten Gewaltexzesse in den Banlieues.

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Das Erbe der Kolonialkriege, stadtplanerisches Versagen und ein fragwürdiges Polizeikonzept: Über die strukturellen ­Ursachen der jüngsten Gewaltexzesse in den Banlieues.

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Viele Blicke in Europa richten sich seit den jüngsten Protestbewegungen auf Frankreich: Warum führen sie zu solchen Ausbrüchen der Gewalt? In den Sozialwissenschaften werden die Ursachen intensiv diskutiert. Zu manchen tragen auch weit zurückreichende Wurzeln bei. ­Einige unter ihnen seien hier angedeutet:
Einen fundamentalen Unterschied zu manchen anderen Ländern hat bis heute der Ausgang des Ersten Weltkrieges zur Folge: Österreich und Deutschland verloren den Krieg. Deutschland blieben mit dem Verlust seiner Kolonien nicht nur die Entkolonialisierungskriege erspart. Im Kontrast wird das Gewicht des französischen Kolonialismus besonders deutlich: Es prägt indirekt weite Teile der Tages­politik sowie der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Afrikanische und asiatische Bevölkerungsteile sind seit Generationen entweder in Auseinandersetzungen mit Frankreich oder durch die Assimilation in der ehemaligen Kolonialmacht geprägt worden. Viele, welche vor den Kolonialkriegen oder vor den nachfolgenden Entkolonialisierungs- sowie inneren Kriegen nach Frankreich flohen, haben dort Bürgerrecht erlangt. Und das fordern sie ein. In allen Bereichen findet man sie völlig integriert, auch in herausragenden Positionen – die Familie des soeben abberufenen, in Frankreich geborenen Erziehungsministers Pap Ndiaye stammt aus dem Senegal. Zugleich schottet sich Frankreich auch aus diesen Gründen weit rigoroser gegen illegale und teils auch legale Einwanderung ab als viele andere europäische Länder. Frankreich – Land des Asyls: Das Bild verankerte sich besonders, als polnische Aufständische nach 1830 vor der erneuten Verfolgung in Deutschland nach Paris weiterflohen. Insgesamt ist dies jedoch eine Legende geblieben.

„Ghettos“ ohne soziale Infrastruktur

Die Stadtplanung bietet weitere Erklärungen. In manchen anderen Ländern flammten Ende der 1960er Jahre breite Debatten über die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ auf, wie der Psychosomatiker Alexander Mitscherlich die Schlafstädte der beiden Nachkriegsjahrzehnte geißelte. Diese bestimmen in Frankreich jedoch weithin noch die Vorstädte, welche sich zunehmend zu Ghettos der – neu oder vor Generationen – zugewanderten Bevölkerung weiterentwickelten, ohne oder mit rudimentärer sozialer und kultureller Infrastruktur. Die beispielsweise in den Niederlanden, in Skandinavien, in Österreich und in der Bundesrepublik Deutschland um 1970 intensiv erneut einsetzende Debatte fand in der praktizierten Städtebaupolitik Frankreichs nur gelegentlich Widerhall.

2017 unterbreitete Jean-Louis Borloo, als ehemaliger Minister für das Städtewesen ein kompetenter Politiker, im Auftrag von Staatspräsident Macron und in Zusammenarbeit mit etwa 200 Bürgermeister(inne)n eine umfassende Analyse der Erb-Lasten, Fehlplanungen und konstruktiven Zukunftspotenziale; der Präsident dankte und legte sie als nicht geeignet zu den Akten. In einer landesweit konzertierten Aktion ergriffen zahlreiche Bürgermeister daraufhin selbst manche konstruktive Initiativen – doch Corona stoppte viele schon 2020 wieder. Zudem schufen Corona-Maßnahmen wie eine rigorose weitgehende Ausgangssperre besonders unter Jugendlichen ein langfristig wirksames Potenzial des Protestes und der Verzweiflung. 2023 sahen die urbanen Verantwortlichen ihre Erfolge häufig buchstäblich in Flammen aufgehen: In Stadtzentren und Vorstädten wurden jetzt gezielt mit Rathäusern, Kulturzentren, Kinos, Sozialzentren auch solche Institutionen angegriffen und teilweise verwüstet, welche gerade der Lösung der Sozialprobleme dienen soll(t)en. Die massenhafte Zerstörung von Nachbarschaftsläden bringt besonders alte Menschen in noch größere Not.

Grundlegend anders als in manchen weiteren Teilen Europas wirkt das französische Polizeikonzept. Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist dies primär maintien de l’ordre – die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Das gilt auch für die Gendarmerie und die für Gewalteinsätze bekannten Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS), welche beide zur Armee gehören. Bis Ende des Ancien Régime war „Polizei“ in vielen Ländern Europas auch für gesellschaftliche Bereiche wie Armut und Soziales zuständig. In Ländern wie Österreich und Deutschland entwickelte sie sich weiter zu breit gefächerten Zuständigkeiten im öffentlichen Leben der Zivilgesellschaft. In der Weimarer Republik prägte der preußische Innenminister dafür das Wort „Die Polizei, dein Freund und Helfer“. Dessen Realität verwandelten die Nationalsozialisten bald in das Gegenteil. Diese NS- und die folgenden DDR-Erfahrungen bestimmen im Kontrast die Polizeikonzepte der österreichischen und der (bundes-)deutschen Polizeien seit den Nachkriegsjahren. In Frankreich dagegen brach die alte Polizeitradition nach der Französischen Revolution dauerhaft ab.

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