Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer

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Von der Hexenjagd bis zum Antijudaismus: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Verschwörungsideologien schon viel Unheil gebracht haben. Heute breiten sich paranoide Tendenzen weltweit aus - und bedrohen die Grundlagen freiheitlicher Gesellschaften.

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Von der Hexenjagd bis zum Antijudaismus: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Verschwörungsideologien schon viel Unheil gebracht haben. Heute breiten sich paranoide Tendenzen weltweit aus - und bedrohen die Grundlagen freiheitlicher Gesellschaften.

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Anfang des Jahres stand der deutsche Nils D. (25) wegen Mitgliedschaft in der Terrorgruppe des selbsternannten "Islamischen Staates"(IS) vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht. Nein, erklärte der früher Drogenabhängige dem Richter, den islamischen Anwerbern sei es "natürlich" nicht gelungen, ihn von der Existenz Gottes zu überzeugen. Doch dann hätten sie ihm Internetvideos über eine weltweite Verschwörung der Illuminaten gezeigt. Das habe ihn von der Existenz des Teufels überzeugt. Und er habe daraus gefolgert, "dass es auch einen Gott geben muss."

Der IS-Glauben an eine weltweite Superverschwörung ist längst kein Einzelfall mehr. Tatsächlich berufen sich heute alle (!) extremistischen Gruppen rechter, linker oder eben religiöser Art darauf, doch eigentlich Opfer einer globalen Verschwörung zu sein und ihre terroristische Gewalt nur als "Notwehr" auszuüben. Aber auch immer mehr "normale" Menschen raunen über vermeintliche Weltverschwörungen von Juden und US-Eliten, von Muslimen, Illuminaten oder auch reptiloiden, gestaltwandelnden Außerirdischen.

Von Russland, China und den Philippinen über große Teile der arabischen und afrikanischen Welt bis hin zur Türkei, zu Ungarn, Polen und Venezuela zieht sich ein globaler Gürtel autoritärer und meist korrupter Regime, die Opposition und Rechtsstaatlichkeit nicht mehr als legitim betrachten, sondern als "Teil der Verschwörung" mit Verboten und Haft bedrohen. Und auch in fast allen demokratischen Nationen erleben populistische Bewegungen einen Aufschwung, die ihrer angst-und wuterfüllten Anhängerschaft versprechen, mit den jetzigen Regierungen als "Volksverrätern" abzurechnen. So brach der neu gewählte US-Präsident Donald Trump im Wahlkampf gleich zwei zentrale demokratische Traditionen, indem er ankündigte, eine Wahlniederlage als "Manipulation" zurückzuweisen und im Falle eines Sieges seine Gegenkandidatin hinter Gitter bringen zu wollen.

Paranoide Politdebatten

Völlig neu ist diese Entwicklung nicht. Schon 1964 attestierte der Historiker Richard Hofstadter den US-amerikanischen Politikdebatten einen zunehmend "paranoiden Stil". Statt Argumente auszutauschen, würden sich Andersdenkende zunehmend vorwerfen, naive Marionetten oder gar aktive Mittäter bösartiger Verschwörungen zu sein. Hofstadter warnte davor, dass auf diesem Wege die Demokratie irgendwann zerfallen könnte -eine Vorhersage von bestürzender Aktualität.

Verschwörungen, also geheime Absprachen zu Lasten Dritter, gab es bereits, bevor es den modernen Menschen gab. Auch unsere Primaten-Verwandten wie zum Beispiel Schimpansen formen und wechseln Allianzen, unterstützen und betrügen, beschützen und bekriegen einander. Mit der Evolution der Sprache vervielfältigten sich die Möglichkeiten und auch Gefahren. Sowohl zu viel Gutgläubigkeit wie auch zu viel Misstrauen - etwa Eifersucht -konnten unsere Vorfahren ins Verderben stürzen. Und in unsicheren Zeiten konnten Verschwörungsängste schnell in unüberprüfbare Vorwürfe umschlagen.

So werden bis heute etwa in Afrika oder auch Papua-Neuguinea jährlich Abertausende Menschen, vor allem Frauen und Kinder, der verschwörerischen "Hexerei" beschuldigt und verstoßen oder sogar ermordet. Und auch im Europa der frühen Neuzeit - und nicht etwa im "dunklen Mittelalter" - kehrte der Hexenglauben noch einmal zurück. Zu den ersten Bestsellern des Buchdruckes gehörte der mit einem gefälschten, theologischen Gutachten versehene "Hexenhammer" von 1486, der Zehntausenden Unschuldigen das Leben kostete. Auch der da gerade mal drei Jahre alte, spätere Reformator Martin Luther (1483-1546) nutzte die neuen Medien nicht nur zur Verbreitung seiner 95 Thesen und der verdienstvollen Bibelübersetzung, sondern auch zur Herausgabe verhängnisvoller Verschwörungsschriften gegen "Papisten", Händler und Bankiers, gegen aufbegehrende Bauern, Hexen und Juden. Katholische Autoren standen dem nichts nach und so zerfleischten sich die Konfessionen und die entstehenden Nationalstaaten unter anderem im 30-jährigen Krieg (1618-1648).

Zahlencodes und Chemtrails

Mit dem Beginn von Aufklärung und Säkularisierung verschwand das Verschwörungsdenken nicht etwa, sondern wechselte nur seine Themen: An die Stelle fremder Konfessionen traten nun "Geheimbünde", an die Stelle des christlich oder islamisch begründeten Anti-Judaismus pseudo-biologischer Rassismus und die vom russischzaristischen Geheimdienst gefälschten "Protokolle der Weisen von Zion". An die Stelle von Engeln und Dämonen rückten besuchende Außerirdische sowie teuflische Staatsagenten ("Men in Black"), und an die Stelle von Orakelzeichen Zahlencodes und Chemtrails. Als Gegenmittel gegen die Verschwörungsangst galten nun nicht mehr Gebete, Schutzamulette und Exorzismen, sondern die Demaskierung, Abwehr und Vernichtung der vermeintlichen Verschwörer.

Für erkennbar krankhafte Übersteigerungen des Verschwörungsdenkens bürgerte sich der schon in der Antike verwendete Begriff der "Paranoia"(gr.: gegen die Vernunft) ein, was wiederum mit Verschwörungsvorwürfen an Wissenschaftler beantwortet wurde. Denn parallel zum Bildungsniveau der Menschen stieg auch die Verfügbarkeit von immer neuen Medien, die jedem Gefühl ertragreich nachspürten.

So wird beispielsweise im klassischen Krimi die soziale und natürliche Ordnung zunächst erschüttert, dann aber von den - meist staatlichen -Ermittlern und Richtern noch wiederhergestellt. Schon im Spionagethriller wird dagegen eine verborgene Parallelwelt aus Geheimdiensten und weltweiten Verschwörungen neben und über das Wirken von Regierungen gestellt. Und in modernen Mystery-Thrillern wie der "Matrix"-Trilogie erscheint bereits die gesamte Realität als Lüge einer Superverschwörung, die von einem zuvor einsamen Computernerd zerschlagen werden muss. Nicht zufällig haben es zwei Sätze aus der "Akte X"-Mystery-Serie zu Kultstatus gebracht: "The Truth is out there -Die Wahrheit ist da draußen" über die Anwesenheit außerirdischer Besucher und ein UFO-Plakat mit der Aufschrift "I want to believe -Ich will glauben".

Durch das Internet kann heute jeder und jede leichter denn je den eigenen, auch dunklen Gefühlen folgen, sich auf dazu passende Informationsströme beschränken und sich mit drei Klicks mit Abertausenden Gleichgesinnten verbinden und bestätigen. Andersdenkende gelten in diesen Kreisen dann wahlweise als "naiv" oder Mit-Verschwörer.

Manipulationen im Internet

Autoritäre Regime wie Russland, China oder die Türkei haben diese Schwäche längst erkannt. Sie unterwerfen das Internet nach innen strengsten Kontrollen und verfolgen nicht nur oppositionelle Journalisten, sondern auch Blogger und Whistleblower. So unterdrücken sie inländische Informationen: Im ganzen chinesischen Netz ist zum Bespiel kaum etwas zum Tiananmen-Massaker von 1989 zu finden, und wer in der Türkei über die Waffenlieferungen Erdogans an syrische Islamisten schreibt, riskiert sofortige Haft. Gleichzeitig fördern diese Regime rechtspopulistische Verbündete in Politik und Medien sowie echte und erfundene Enthüllungen in der westlichen Welt -denken wir an die NSA-Dokumente des heute in Moskau lebenden Edward Snowden (echt) oder die erfundene Nachricht um die Gruppenvergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Flüchtlinge (falsch). Zudem fluten bezahlte Trolle (Internet-Teilnehmer, die nur provozieren wollen) und programmierte Bots (Software-Roboter) das Netz mit Verschwörungskommentaren und Beschimpfungen, die die öffentliche Meinung manipulieren und ernsthafte Sachdiskussionen erschweren.

Werden liberale Demokratien lernen, mit den Herausforderungen auch dieser neuen Medien umzugehen - oder werden wir in neo-autoritäre Regime zurückfallen? Glauben wir noch an die Vernunft, an Freiheit und Vielfalt - oder werden auch wir der Paranoia verfallen?

Der Autor ist Religionswissenschaftler, Blogger und Buchautor

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