Der Weg in die Hetzspirale

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Vor drei Jahren kamen Tausende Flüchtlinge zu uns. Zuwendung und Begeisterung sind gewichen, aber nicht dem gesunden Realismus, sondern gefährlichen Impulsen.

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Vor drei Jahren kamen Tausende Flüchtlinge zu uns. Zuwendung und Begeisterung sind gewichen, aber nicht dem gesunden Realismus, sondern gefährlichen Impulsen.

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Vor drei Jahren war die Welt für viele von uns mehr als in Ordnung. Tausende Flüchtlinge strömten über die Grenze -aber das, was man als "Allgemeinheit" bezeichnet, jene Menschen die sich offiziell zu Wort meldeten in diesen Septembertagen 2015, waren stolz auf sich selbst und das Vermögen, zu helfen. Und mit Recht. Den vielen, die kamen, wurde geholfen, selbst als die Behörden versagten.

Die Szenerie erinnerte ein wenig an dieses triumphale "Ja zu sich selbst", von dem Friedrich Nietzsche einst sprach, als er den selbstbewussten Menschen charakterisierte. Dieses "Ja" kondensierte in Angela Merkels "Wir schaffen das" - ein Appell, der übrigens nicht als Unterwerfung gemeint, sondern gewürzt war mit der zivilisierten Verachtung Europas gegenüber dem Elend und seinen Feldherren draußen in der Welt.

Europa erlebte damals seinen "Obama-Moment", sein "Yes We Can". Wie die Dinge sich doch gleichen, nicht wahr? Und wie schnell sie sich drehen. So wie der Lichtbringer in der Übersetzung zum Luzifer wird, geriet die Lichtgestalt Merkel binnen weniger Monate zur Dämonin. Aus Fliehenden wurden Horden einer imaginierten Völkerwanderung, aus den Helfern Kulturverräter aus Naivität. Nietzsches nobler "Ja-Mensch" wurde vom "Nein"-Sager abgelöst, einem der stets ver-sagt (nämlich Zuwendung und Hilfe), und damit Wahlen gewinnt.

Verbrechen und Sprache

Die Gründe für den Umschwung sind oft zitiert: die Silvesternacht in Köln, Sexualmorde und Vergewaltigungen, zuletzt der Mord in Chemnitz. Jene, die diese Fälle kriminellen Scheiterns von Fremden aufzeigen, tun das zu Recht. Aber gerade unter sie haben sich selbsternannte Anwälte des Volkes gemischt, denen weder Volk noch Wahrheit ein Anliegen sind. Das zeigt sich in Art und Niveau, wie sie die Diskussion über diese Verbrechen führen. Sie arbeiten beständig an einer Verschiebung der Sprachgrenze: Es geht um das, was guten Gewissens gesagt werden darf und was nicht, an der Grenze zwischen Wahrheit, Empfindung, Vorurteil und Rassismus. Und dabei fällt auf, dass heute gesagt werden kann, was vor kurzer Zeit zu sagen undenkbar gewesen wäre.

Das Schweigen und die Unkorrekten

Elisabeth Noelle-Neumann prägte in den 70er-Jahren den Begriff der "Schweigespirale". Demnach hängt die Bereitschaft der Menschen, sich öffentlich zu positionieren, von der Einschätzung des allgemeinen Meinungsklimas ab. Man orientiert sich dabei in der Hauptsache an Medien und Politik. Umso wichtiger sind Kommentare von Politikern und Journalisten. Bedienen sie Ressentiments, verleitet das die Adressaten, ihre Hemmungen fallen zu lassen. In diesem Sinn sind Meinungsmacher nicht "frei" in ihrer Meinung. Sie sind wirkungsverantwortlich und schlechterdings auch wirkungs-schuldig. Das trifft vor allem jene, die sich brüsten, schonungslos "alles" zu sagen, vor allem das "Unkorrekte". Sie, die sich mutig glauben, wenn sie individuelle Straftaten auf ganze Ethnien überwälzen. Sie, welche die Sippenhaftung als Verantwortungsprinzip für Minderheiten definieren. Ihr Handeln ist gefährlich und wird dort enden, wo man sich "noch wundern wird, was alles möglich ist".

Tatsächlich ist schon einiges möglich. Nehmen wir nur den Dienstag: In Wien schlägt ein FP-Mandatar vor, Landstriche in Nordafrika militärisch zu erobern, um dort Lager zu errichten. In Berlin bezeichnet eine AfD-Abgeordnete Besucher eines Anti-Rassismus-Konzerts als "abscheulich". Auch früher gab es Misstöne. Nun aber machen die Misstöne die Melodie. Vergessen wird, dass die Sprache der Politik der Sprache der Moral folgt und dass die Sprache der Politik die Sprache des Rechts formt. Das ist die Gefahr: dass Ressentiment und Angst Gesetz werden. Und dass die Schweigespirale sich dreht und zur Hetzspirale wird in einem Wettbewerb der Unmenschlichkeit.

oliver.tanzer@furche.at | @olivertanzer

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