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AUS DEN TAGEBÜCHERN 1939-1945

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Ziele und Zwecke der Menschen bleiben sich im großen und ganzen gleich. Die Revolutionen gehen auf die Mittel. Gottes Offenbarung ist eine Revolution der Mittel, die der Mensch anwenden soll, um zu seinem Heil zu kommen. Jeder Adel konstituiert sich durch das „Wie“ des Lebens, also durch die Mittel, die erlaubt sind und nicht erlaubt

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Vergötzung physischer Kraft und Gesundheit führt zunächst notwendig zur Verachtung des Alters, damit aber auch zur Verachtung der Weisheit. Im europäischen Kulturkreis (vorchristlich wie nachchristlich) hat es das bis jetzt noch nie gegeben. Übrigens auch nicht im östlichen Kulturkreis! Es ist eine Verwüstung der Seelen, die Gott nicht zulassen wird, dessen darf unser christlicher Glaube sicher sein. Zu viele „Väter“ haben für uns gelitten und gelehrt.

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Nach dem Kriege werden die Aspirationen des „Sozialismus“ ohne Zweifel stärker sein, aber doch noch nicht die schließlich entscheidende Kraft und Macht des Nationalen erlangt haben. Die zwangsweise Lösung des sozialen Problems, nämlich die durch die Verarmung, ist zweideutig. Es kommt ja auf den Geist an So, wie die Menschen sind, ist eine mehr oder weniger geschickte und schlaue Versklavung wahrscheinlich, begünstigt durch die Neigung des Menschen, sowohl andere wie auch sich selbst — zu betrügen.

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Der Mensch scheint aus eigener Kraft der Aufstellung einer gerechten sozialen Ordnung nicht gewachsen zu sein. Kaum, daß er einsieht, daß er von zwei Prinzipien auszugehen hat, nämlich, daß die Menschen gleich und ungleich sind, daß er also beiden Prinzipien gerecht werden muß. Er zieht das Bequemere vor, nur eines gelten zu lassen: die Gleichheit oder die Ungleichheit. Katastrophen sind die Folgen beider Einseitigkeiten. Aber selbst wenn theoretisch die Einsicht in die Notwendigkeit der Geltung beider Prinzipien vorhanden ist (was heute noch lange nicht der Fall ist), dann beginnt erst die unermeßliche Schwierigkeit der Unterscheidung im konkreten Fall. Und da eben bin ich der Meinung, daß der Mensch aus eigener Kraft gar nicht zu Ende kommen kann. Er braucht die Erleuchtung, die unmittelbare Mithilfe Gottes in Gebet und Führung.

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Was ist das Schwerste für den Menschen? „Das Maß.“ Und zwar in der Theorie, in der Lehre, wie in der Praxis, im Tun und Handeln. Und das läßt einen daran verzweifeln, daß

Zeichnung von Richard Seewald, 1935

es nach diesem Kriege besser wird. Die das Maß haben, werden nicht die Macht haben, den Frieden zu machen und die die Macht haben, werden ihn machen ohne das Maß.

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Die Vaterlandsliebe liegt ift der Natur des Menschen und ist daher etwas so Selbstverständliches, daß ihre übertriebene Betonung nur lächerlich oder peinlich wirkt und sie untergräbt, statt stützt.

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Welches Maß an Korruption oder falschen Prinzipien die Völker aushalten, bis es zur Katastrophe führt, und auch wie lange sie es aushalten, gehört zu den schwierigsten Bestimmungen. Im allgemeinen dauert es länger, als man meint. Vergleiche mit individuellen und familiären Erfahrungen führen leicht irre. Wer außerdem glaubt, daß Gott die Geschicke der Völker führt, ist erst recht vorsichtig.

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Die immer wieder den Turm von Babel erbauen, sagen nach der Zerstörung und werden bis ans Ende der Welt immer sagen: „Beinahe, um ein Haar wäre es gelungen. Ein ganz kleiner Fehler wurde begangen, ohne ihn wäre es

gelungen“, oder: „Einige Saboteure waren da, das christliche Gift...“

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Mit der Methode des Staunens hat die Philosophie ihre besten Erkenntnisse errungen, weit tiefere und wertvollere als mit der Methode des Zweifels. Dennoch besteht diese zurecht, aber sie ist der ersten untergeordnet. Während dem unmittelbaren Sein gegenüber das Staunen zuerst am Platz ist, ist dem Können und Umfang des menschlichen Verstandes gegenüber das Zweifeln sehr wohl angebracht. Ja, wenn die Irrtümer sich verhärtet haben, ist die Methode des Zweifels die richtige und führt zur Gesundung.

Wenn die „autoritären“ Staaten, die eine Aufgabe der Korrektion hatten, in diesem Maße und Tempo fortfahren, die unmenschlichsten und gottwidrigsten Verbrechen zu begehen, dann wird in nicht gar langer Zeit der Liberalismus in den Augen und Herzen der Menschen für das goldene Zeitalter gelten.

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Heute wurde bekanntgegeben, daß ab 19. September jeder Jude auf der linken Seite seiner äußeren Kleidung einen gelben Stern, den Stern Davids, des großen Königs, aus dessen Geschlecht der Menschensohn, Jesus Christus, die zweite Person der Trinität, dem Fleische nach geboren ist, zu tragen habe. Es könnte die Zeit kommen, daß die Deutschen im Auslande auf der linken Seite ihrer äußeren Kleidung ein Hakenkreuz, alSD das Zeichen des Antichristen, tragen müssen. Durch ihre Verfolgung der Juden nähern sich nämlich die Deutschen innerlich immer mehr den Juden und deren Schicksal. Sie kreuzigen ja heute Christus zum zweitenmal, als Volk.' Ist es nicht wahrscheinlich, daß sie auch ähnliche Folgen durchzuleben haben werden?

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Mein fünfundsechzigster Geburtstag. Einmarsch der Alliierten in Rom!

Der Präsident der Reichsschrifttumskammer läßt mir schreiben: „Zu Ihrem 65. Geburtstag am 4. Juni möchte ich Ihnen, gleichzeitig im Namen des deutschen Schrifttums, meine besten Wünsche übermitteln.“ Wie ist das? Ja, wie ist das? Hat Herr Johst überhaupt eine Ahnung von mir? Dann hat er sicherlich keine Ahnung von diesem Brief. Weiß er aber von diesem Brief, dann weiß er sicherlich nichts von mir. Es besteht der begründete Verdacht, daß der Brief ein automatisches Produkt einer gutgeordneten Kartothek ist, in der hinter der Nummer 8814 — das ist meine Nummer — der Name Theodor Haecker, mein Geburtstag und meine Adresse stehen. Ja, nur so bekommt die Sache einigermaßen Sinn, wiewohl es freilich noch viele andere Möglichkeiten gibt. Aber wozu darüber nachdenken?

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