Der Bayer im Vatikan auf dem Rückzug

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Am 16. April wird Kardinal Joseph Ratzinger 75 Jahre alt. Der Präfekt der römischen Glaubenskongregation spielt immer noch eine wichtige Rolle; er zieht sich jedoch zunehmend aus dem "Tagesgeschäft" zurück.

Kardinal Joseph Ratzingers lange Laufbahn neigt sich dem Ende zu. Es ist mehr als gerecht festzustellen, dass - wie immer man über ihn urteilen mag - in den letzten 35 Jahren nur wenige Kirchenfürsten die katholische Weltkirche nachhaltiger geprägt haben wie er. Sein ewiger Widerstand änderte die Ausrichtung der wichtigsten theologischen Bewegungen in der nachkonziliaren Kirche, von der Befreiungstheologie aus Lateinamerika bis zur pluralistischen Religionstheologie, die sich in den neunziger Jahren von Asien aus verbreitete.

Ratzinger zieht sich von diesen Kontroversen mehr und mehr zurück, und seine Mitarbeiter beginnen, auf das brachliegende Terrain vorzustoßen. Gleichzeitig gibt die zunehmende Gebrechlichkeit von Ratzingers Chef, Papst Johannes Paul II., Spekulationen Auftrieb, welche Rolle Ratzinger im Konklave, das den Nachfolger des Papstes wählen wird, spielen wird.

Zeit der Stellvertreter

Alter und physische Ermüdung lassen den Kardinal Ratzinger von heute milder erscheinen, und mit der Zeit scheint sich auch die öffentliche Meinung über zu wenden. Kenner des silberhaarigen Meistertheologen aus Bayern waren immer über die Kluft betroffen, die zwischen dem Ratzinger ihres persönlichen Erlebens - sanft, freundlich, bescheiden - und dem axtschwingenden Autokraten liegt, als den ihn große Teile der katholischen Öffentlichkeit sehen.

Dieser Kontrast wird umso offensichtlicher, seit der zweite Mann, Erzbischof Tarcisio Bertone, die Verantwortung fürs Tagesgeschäft in der Glaubenskongregation übernommen hat, jener Aufpasserbehörde des Vatikans, die 20 Jahre lang mit Ratzinger identifiziert wurde.

Jetzt ist es Bertone, der eigensinnige Theologen ermahnt, wie jüngst den amerikanischen Jesuitenpater Roger Haight. Es war auch Bertone, der die Sache in die Hand nahm, als der Skandal um Erzbischof Emmanuel Milingo platzte, jenen sambischen Kurienprälaten, der ein Mitglied der Vereinigungskirche San Myung Muns heiratete und sich dann wieder trennte.

Und es war Bertone, der für den Vatikan zu den sexuellen Missbrauchsfällen durch katholische Priester Stellung nahm, die zur Zeit die katholische Kirche in den Vereinigten Staaten und anderswo traumatisiert. Es war auch Bertone, der vor kurzem nach Portugal zu Schwester Lucia dos Santos, der noch lebenden Seherin von Fatima, reiste, weil ein ehemaliger Priester aus Kanada das Gerücht verbreitet hatte, der Vatikan habe einen Teil der Botschaft von Fatima unterdrückt.

Schon seit einigen Monaten geht Ratzinger nicht mehr täglich in sein Büro; das bedeutet auch, dass er seinen Schreibtisch räumt, um für einen Nachfolger Platz zu schaffen. Letzten September meinte Ratzinger, er warte "ungeduldig" auf den Tag, an dem er sich von seinem Kurienamt zurückziehen könne. Ratzinger äußerte sich damals über Kardinal Carlo Maria Martini, einen anderen Titanen des gegenwärtigen Pontifikats, der wiederholt davon gesprochen hatte, sich nach Jerusalem zurückziehen zu wollen; Ratzinger: "Ich kann seine Sehnsucht verstehen. Dieses Leben ist sehr anstrengend."

Eine bekannte römische Tageszeitung spekulierte, Ratzinger werde zunächst Präfekt der Glaubenskongregation bleiben, aber in ein nahes Kloster übersiedeln, wo er ausruhen, studieren und schreiben könne. Er werde vielleicht noch zwei Tage pro Woche in die Kongregation kommen.

Kirchenkreise in Rom gehen auch davon aus, dass der amerikanische Dominikanerpater Augustine Di Noia, ein ehemaliger Sekretär der Glaubenskommission der US-Bischöfe und zur Zeit am "Kulturzentrum Johannes Paul II." in Washington tätig, zum neuen Untersekretär der Glaubenskongregation ernannt wird. Er soll den Franziskaner Gianfranco Girotti ersetzen, der seit kurzem einen anderen Posten im Vatikan einnimmt. Diese Ernennung würde die Lehrkompetenz des Mitarbeiterstabes der Kongregation stärken - ein weiteres Zeichen dafür, dass sich der Vatikan auf die Ära nach Ratzinger vorbereitet.

Ratzingers Engagement in der Glaubenskongregation beschränkt sich heute auf Personen oder Probleme, zu denen er eine gewisse persönliche Verbindung hat. So wurde beispielsweise das jüngste Schweigegebot für den deutschen Benediktinerpater Willigis Jäger, einen Zen-Meister, der vom Vatikan des Synkretismus beziehungsweise der unannehmbaren Vermengung von Buddhismus und Christentum beschuldigt wurde, direkt von Ratzinger verhängt (vgl. furche 8/2002., Seite 9). Dieses persönliche Eingreifen hat damit zu tun, dass Jäger wie Ratzinger Deutscher ist, und dass das Thema Synkretismus seit gut einem Jahrzehnt zu den persönlichen Anliegen Ratzingers gehört.

Um die meisten anderen Materien hingegen kümmern sich Bertone und die anderen Funktionsträger der Glaubenskongregation.

Die geschilderte Entwicklung war erstmals im September 2000 sichtbar, als Ratzinger einen wichtigen Befragungstermin des Jesuitentheologen Jacques Dupuis in Bertones Hände legen wollte; ein hochrangiges Mitglied des Jesuitenordens musste ihn überreden, den Fall dann doch selbst zu übernehmen.

Die unsichtbare Katze

In dem Maß, als sich der Kardinal von seiner institutionellen Rolle verabschiedet, kommt der - sehr erleichterte - Mensch Ratzinger hervor - zur Freude seiner Bewunderer und zur Verwirrung seiner Kritiker, für die Ratzinger seit langem der am meisten abgelehnte Kirchenmann ist.

Zuletzt trat Ratzinger in Rom anlässlich der Präsentation eines neuen Buches des Autors Giuseppe Romano mit dem Titel: Opus Dei: Il Messaggio, le Opere, le Persone (Opus Dei: Die Botschaft, die Werke, die Personen, San Paolo 2002) öffentlich auf. Ratzinger ist ein Anhänger von Opus-Dei-Gründer Josemaría Escrivá de Balaguer, der am kommenden 6. Oktober heilig gesprochen werden soll. Die Buchvorstellung fand im Augustinianum statt, am anderen Ende der Via Paolo VI, die beim Palast des Heiligen Offiziums, wo Ratzinger arbeitet, beginnt.

Ratzinger, der am 16. April seinen 75. Geburtstag begeht, war bei der Opus-Dei-Veranstaltung gut in Form, er sprach ohne vorbereiteten Redetext und in geschliffenem Italienisch.

Den Kern der Ausführungen widmete Ratzinger seiner Bewunderung für die im Namen "Opus Dei/Werk Gottes" innewohnende Bedeutung: Escrivá habe erkannt, so der Kardinal, dass er nicht sein eigenes, sondern Gottes Werk vollbringe. Escrivás Ziel sei es gewesen, Werkzeug zu sein.

Ratzinger pries Escrivá außerdem für seine "absolute Treue zur großen Tradition der Kirche", wobei er gleichzeitig offen gewesen sei für die "großen Herausforderungen der Welt" in den Universitäten und in den verschiedenen Berufswelten.

Ratzinger endete mit für ihn unüblichen persönlichen Bemerkungen. Er bekannte (was Freunde und Studenten schon lange wissen), ein Katzenliebhaber zu sein. Er habe im Opus-Dei-Buch ein schmales Kapitel mit dem Titel "Die unsichtbare Katze" gefunden, und er scherzte, dass ihm dieser Abschnitt besonders gefalle. (Der Kapiteltitel bezieht sich auf ein Wort des englischen Schriftstellers C. S. Lewis aus seinem Buch The Four Loves; er beschreibt damit die Annahme, dass etwas existiert, obwohl es dafür keinen Beweis gibt, wie eine unsichtbare Katze auf einem Sofa. Romano, der Autor des Opus-Dei-Buches, benutzt das Bild von Lewis, um zu widerlegen, dass das Opus Dei politische Interessen habe.)

Nach der Veranstaltung ging Ratzinger, begleitet von seinem omnipräsenten Sekretär Josef Clemens, zum Palast des Heiligen Offiziums zurück. Er wurde dabei alle paar Meter von Bewunderern aufgehalten, die seine Hand schütteln, ein Foto machen oder den Segen erbitten wollten, oder die ihn zu einem Glaubensproblem fragten. Ratzinger meisterte dies alles spielend und beantwortete die Fragen mit Freundlichkeit und Geduld.

Im nächsten Konklave

Trotz der körperlichen Beschwerden Johannes Pauls II., die während der Karwoche so sichtbar waren, ist der Gesundheitszustand des Papstes stabil, und innerhalb des Päpstliches Hauses, der unmittelbaren Umgebung des Papstes, redet niemand von einer Krise. Der Vatikan hat bestätigt, dass der Papst im Mai nach Bulgarien und Aserbaidschan reisen wird, und seine Sommerpläne für eine Teilnahme am Weltjugendtreffen in Toronto werden weiter verfolgt.

Ratzinger hat immer noch fünf Jahre, bis er 80 sein wird und bei einer Papstwahl nicht mehr mitstimmen kann: Trotz allem Lebenswillen Johannes Pauls II. ist es daher wahrscheinlich, dass Ratzinger am nächsten Konklave teilnehmen wird.

Welche Rolle wird er dort spielen?

Ratzinger wird selbst nicht zum Papst gewählt werden. Er ist zu alt - und gewichtiger: Er ist eine zu kontroverse Gestalt. Nach dem derzeitigen ebenso dynamischen wie polarisierenden Pontifikat werden viele Kardinäle nach einer einigenden Gestalt Ausschau halten, nach einem, der die Kirche "atmen" lässt. Ratzinger ist dafür nicht der richtige Mann. Bedenkt man all die Frustrationen, die über die römische Kurie unter Johannes Paul II. artikuliert werden, ist es unwahrscheinlich, dass ein Kurienfunktionär oder gar Ratzinger gewählt wird.

Sicher gibt es im Kardinalskollegium eine Fraktion, die sich bei der Frage, wer zu wählen wäre, an Ratzinger orientiert. In dieser Fraktion sind die theologisch Konservativen versammelt, Kardinäle, die die Gefahren des Säkularismus und des Relativismus fürchten. Sie wollen die Kirche nicht "vermischt" sehen. Für diese Gruppe ist Ratzinger die Leitfigur und Dominus Iesus, das umstrittene Lehrschreiben der Glaubenskongregation aus dem Jahr 2000, die Charta.

Zu den Kardinälen dieses Blocks gehören Jan Schotte, der Belgier, der die Bischofssynoden organisiert; Giacomo Biffi von Bologna; Bernard Law und Francis George aus den Vereinigten Staaten; Johannes Degenhardt von Paderborn; Ivan Dias von Bombay; Desmond Connell aus Irland; Aloysius Matthew Ambrozic aus Kanada; Marian Jaworski von Lemberg; und Jozef Tomko, ein Slowake, der seit langem in Rom und an der Kurie tätig ist. Ein anderes führendes Mitglied dieser Fraktion ist natürlich der Wiener Kardinal Christoph Schönborn.

Rechtsruck aus Afrika?

Wen könnte Ratzinger als Papstkandidaten unterstützen? Ein Hinweis dazu war Anfang April in einem Interview Ratzingers mit der deutschen Tageszeitung Die Welt zu finden. Der Kardinal erklärte dort, ein afrikanischer Papst "wäre ein schönes Zeichen für die ganze Christenheit". Er fügte hinzu, dass sie "voll auf der Höhe für ein solches Amt" seien, und dass es prinzipiell durchaus möglich sei, dass "der nächste Papst von dort kommt".

Der Topkandidat unter den Afrikanern ist Kardinal Francis Arinze, ein Nigerianer, der den Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog leitet, und der theologisch zu den sehr Konservativen zu rechnen ist.

Der steigende afrikanische Einfluss in anderen Teilen der christlichen Welt, insbesondere bei den Anglikanern, drängt etablierte protestantische Kirchen mehr und mehr nach rechts. Ratzinger könnte auf ein ähnliches "Licht aus dem Süden" innerhalb der katholischen Kirche hoffen. Wenn dem so ist, wäre noch ein weiteres Kapitel in der bereits bemerkenswerten Ratzinger-Geschichte zu schreiben.

Der Autor ist Vatikankorrespondent der unabhängigen US-Wochenzeitung "National Catholic Reporter" und Verfasser einer dieser Tage auf Deutsch erschienenen Ratzinger-Biographie (siehe unten).

Aus dem Amerikanischen von Otto Friedrich.

Buchtipp

KARDINAL RATZINGER.

Von John L. Allen. Aus dem Amerikanischen von Hubert Pfau. Patmos Verlag, Düsseldorf 2002. 340 Seiten, geb., e 25,60

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