Ein "51-Prozent-Papst"?

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Mit seiner Änderung der Papstwahlordnung 1996 hat Johannes Paul II. ins kommende Konklave eingegriffen: Erstmals seit 1179 könnte ein Papst ohne Zweidrittelmehrheit gekürt werden.

Nach dem Pontifikat von Johannes Paul II. - es war mit 26 Jahren und fünfeinhalb Monaten das zweitlängste eines Petrusnachfolgers - lässt ein Blick auf die Zahlenverhältnisse im Kardinalskollegium vermuten, der nächste Papst werde den Kirchenkurs von Karol Wojtyla in jeder Beziehung fortsetzen. Es gibt derzeit 183 Kardinäle, von denen aber 66, mehr als ein Drittel, am Todestag des Papstes das 80. Lebensjahr vollendet hatten und daher nicht mehr ins Konklave einziehen dürfen. Von den verbleibenden 117 "Elektoren" stammen nur drei noch aus der Ära von Papst Paul VI., die 114 anderen hat Johannes Paul II. in neun Konsistorien "kreiert", wie der Fachausdruck für das Verleihen des Kardinalstitels lautet.

Die Netzwerker

Da der noch von Paul VI. ernannte philippinische Kardinal Jaime Sin wie auch der Mexikaner Adolfo Suárez Rivera aus Gesundheitsgründen fehlen werden, verfügen nur zwei Kardinäle, beide langjährige enge Mitarbeiter des polnischen Pontifex, über Papstwahlerfahrung: der deutsche Dekan des Kollegiums und bisherige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, und der frühere Großpönitentiar, William Wakefield Baum aus den USA. Sie könnten in diesem Konklave als "Grandi elettori" (Großwähler) auftreten - so nennen die Italiener jene Kardinäle, die versuchen, Netzwerke für bestimmte Kandidaten zu bilden und Regie für deren Wahl zu führen. Am für Reformen offenen Flügel der Kardinäle erwartet man den ehemaligen, an Parkinson leidenden Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, in einer solchen Rolle. Dass Ratzinger und Martini vom Format her selbst "papabili" wären, ist unbestritten, doch schon auf Grund ihres Alters, beide sind Jahrgang 1927, aber auch der Tatsache, dass sie als profilierte Exponenten kirchenpolitischer Richtungen gelten, ist unwahrscheinlich, dass einer der beiden zum Papst gewählt wird.

Die Situation ähnelt jener von 1878, als ein komplett von Pius IX., dem Papst des Syllabus und des Unfehlbarkeitsdogmas, kreiertes Kardinalskollegium zum Konklave zusammentrat und überraschend einen viel fortschrittlicher als sein Vorgänger agierenden Papst wählte: Leo XIII., der die erste Sozialenzyklika "Rerum novarum" veröffentlichte. Der große Unterschied: Heute ernennt Rom auch alle Bischöfe, während damals die Besetzung wichtiger Bischofssitze, deren Inhabern der Papst den Kardinalshut kaum verweigern konnte, zu einem großen Teil noch von weltlichen Machthabern oder örtlichen Kirchengremien kontrolliert wurde.

Heute ist die römisch-katholische Kirche zentralistischer organisiert. Und die Thematik Zentralismus oder mehr Regionalisierung zählt neben den Debatten um Moralprobleme, den Zugang zu Ämtern und das Verhältnis zu anderen Konfessionen und Religionen sicher zu den Hauptfragen im Vorfeld der heurigen Papstwahl. Das Kardinalskollegium steht vor einer Richtungsentscheidung, die bereits die Sitzungen vor dem Konklave beschäftigen und Einfluss auf die Auswahl des nächsten Papstes haben wird.

Konklave bedeutet: Alle Arten von Kontakt mit außen stehenden Personen - Briefe, Zeitungen, Radio, Fernsehen - sind abgebrochen, die Telefonleitungen lahm gelegt, Mobiltelefone streng verboten. Fenster und Türen werden versiegelt, Vorhänge zugezogen, um alle Möglichkeiten von Signalen auszuschalten. Nichts soll nach draußen und nichts nach drinnen dringen, schon gar nicht dürfen irgendwelche Aufnahmen angefertigt werden. Vertrauenswürdige Techniker sind damit beauftragt, die Sixtinische Kapelle minutiös auf womöglich versteckte Abhör- oder Aufnahmegeräte abzusuchen. Durch eine Neuerung der Konstitution von 1996 ist der Zaun um das Konklave allerdings etwas weniger dicht: Da die Kardinäle nicht mehr in engen Zellen im Apostolischen Palast nahe der Sixtinischen Kapelle, sondern im Hospiz Santa Marta jenseits des Petersdomes wohnen und per Bus die Wege zwischen Quartier und Wahlort zurücklegen sollen, musste der Konklavebereich erweitert und ein gewisses Risiko von Kontakten mit der Außenwelt eingegangen werden. Ob da nicht findige Medienleute - womöglich in Verkleidung - versuchen werden, den Eminenzen möglichst nahe zu kommen?

Über 70, aus dem Norden?

In welchen kirchenpolitischen "Lagern" die voraussichtlich 115 Elektoren stehen, kann man nur abschätzen. Sicheres lässt sich über die Verteilung nach Herkunftsregionen sagen: 58 Europäer (davon 20 Italiener), 14 Angloamerikaner, 20 Lateinamerikaner, elf Afrikaner, zehn Asiaten und zwei Ozeanier. Damit dominiert weiter der Norden, der im Kollegium schon an Boden verloren hatte. Diese Zahlen lassen diesmal eher noch einmal einen Europäer und nicht den sicher bald fälligen Papst aus dem Süden erwarten.

Eindeutig ist die Dominanz der älteren Jahrgänge: 77 Kardinäle, was auch genau der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit entspräche, sind schon über 70 Jahre alt, von den übrigen 38 stehen nur fünf noch vor dem 60. Geburtstag. Angesichts des Altersdurchschnitts und der kirchengeschichtlichen Erfahrung, dass zumindest eine Tendenz besteht, auf ein langes Pontifikat eher ein kurzes folgen zu lassen, spricht vieles dafür, dass der nächste Papst mindestens um die 70 Jahre alt ist.

Stichwort: Zwei-Drittel-Mehrheit. Ihre Einführung im Jahr 1179 war eine aus schmerzlichen Erfahrungen geborene weise Maßnahme. Sie trug einerseits dem Umstand Rechnung, dass in der Kirche absolut einmütige Entscheidungen zwar wünschenswert, aber nicht immer möglich sind, andererseits ein Papst ohne deutliche Stimmenmehrheit sofort mit starker Opposition rechnen muss. Das Niederstimmen einer großen Minderheit durch eine knappe Mehrheit sollte in der Kirche keinen Platz haben und wurde auch auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, als man mühsam um Formulierungen rang, die noch einem großen Teil der Minderheit die Zustimmung erlaubten, nicht praktiziert.

Johannes Paul II. hat aber 1996 die Möglichkeit geschaffen, nach 33 erfolglosen Wahlgängen von der geforderten Zwei-Drittel-Mehrheit abzugehen und den neuen Papst mit einfacher Mehrheit zu wählen. Diese Variante hatte bereits Paul VI. in seiner Wahlordnung von 1975 "Romano Pontifici eligendo" eingeräumt, allerdings nur nach einem einstimmigen, ausnahmslos von allen Elektoren ("unanimiter, id est nullo excepto") gefassten Beschluss. Doch jetzt ist eine solche weit reichende Entscheidung nicht einmal an eine Zwei-Drittel-Mehrheit, sondern nur an eine absolute Mehrheit gebunden.

Problematische Dynamik

Das bedeutet, dass eine Gruppe, die für ihren Kandidaten knapp über 50 Prozent der Stimmen zusammenbringt, jetzt geduldig zwölf Tage auf dessen endgültige Wahl warten kann. 58 Stimmen sind natürlich viel einfacher zu bekommen als 77. Auf Grund der Ernennungspolitik Johannes Pauls II. ist es wahrscheinlicher, dass das dem konservativen Flügel gelingt. Bisher mussten meist Kompromisskandidaten gesucht werden, die starken Exponenten kirchenpolitischer Lager hatten meist mindestens ein Drittel der Kardinäle gegen sich. Diesmal könnte auch einer, der nie und nimmer zwei Drittel überzeugen könnte, zum Papst gewählt werden.

Der Druck zu Kompromissen ist kleiner geworden, die Gefahr zu Spaltungen unter Umständen größer - nämlich dann, wenn eine starke Minderheit mit hauchdünner Mehrheit überstimmt wird und darauf gegenüber dem neuen Pontifex mit passiver Resistenz reagiert. Ein mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählter Pontifex hätte es sicher leichter, der Kirche neuen Schwung zu geben.

Seit 170 Jahren hat kein Konklave mehr länger als vier Tage gedauert. Das könnte, wird sich aber wahrscheinlich nicht wesentlich ändern. Denn vermutlich wird man gar nicht alle 33 Wahlgänge "aussitzen", wenn ein Kandidat die 50-Prozent-Marke überschritten hat. Ein langes Konklave würde der Öffentlichkeit enthüllen, wie uneinig die Kardinäle sind, und diesen Eindruck werden viele vermeiden - und außerdem gerne bald wieder aus Rom heimfahren - wollen. Und warum sollte man einen Pontifex, den man ohnehin nicht mehr verhindern kann, gleich verärgern, indem man seine Wahl um ein paar Tage blockiert?

Der Autor ist Redakteur der "Wiener Zeitung" und Verfasser des Buches "Der nächste Papst" (2001).

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