Die Provokation richtet sich selbst

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Schnädelbachs Kritik erreicht das Gegenteil: Sie führt dazu, dass man das Christentum reflexartig in Schutz nimmt.

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Schnädelbachs Kritik erreicht das Gegenteil: Sie führt dazu, dass man das Christentum reflexartig in Schutz nimmt.

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Übertreibung ist ein gängiges und auch legitimes Stilmittel, um auf Probleme aufmerksam zu machen. Die Probleme des Christentums sind heute so offenkundig, dass man sie nicht noch zu übertreiben braucht. Man kann auch die Übertreibung selbst übertreiben - etwa zum Zweck der Provokation. Herbert Schnädelbachs Provokation "Der Fluch des Christentums" richtet sich selbst und erreicht das Gegenteil von dem, was sie bezweckt: Anstatt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Christentum anzuregen, führt Schnädelbachs Provokation dazu, dass man das Christentum reflexartig in Schutz nimmt. So kann dem Christentum eigentlich nichts Besseres passieren als eine Provokation a la Schnädelbach. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem heutigen Christentum kommt so nicht zustande. Sie ist aber unerlässlich. Echte Religionskritik ist zu wichtig, als dass man sie "Fundamentalisten" überlassen darf.

Religionskritik setzt sich mit dem Gesamtphänomen "Religion" kritisch auseinander. Sie beschäftigt sich in erster Linie mit religiösen Lehren, zweitens mit religiösen Institutionen und Gemeinschaften (wie Kirchen) und Einzelpersonen sowie drittens mit der Wirkungsgeschichte von religiösen Lehren, Einrichtungen und Personen. Schnädelbach geht es angeblich nicht um die "grauenvolle Kriminalgeschichte des Christentums", sondern um "das verfasste Christentum selbst".

Ins Fäustchen gelacht Um den Vertretern des Christentums nicht die Ausrede zu ermöglichen, dass das Christentum an sich ja gut sei, alle seine Mängel aber nur an seinen Einrichtungen und an der Schwäche und Fehlbarkeit der Menschen liegen, will er nicht in die Falle "Prinzip versus Realität" tappen - und tappt prompt in sie hinein. Genüsslich spickt er seine Provokation mit der Schilderung von Gräueltaten - Karlheinz Deschner kann sich ins Fäustchen lachen: Diese Art von Religionskritik beherrscht er weit besser als Schnädelbach.

Um die offenkundigen sachlichen und historischen Fehler in Schnädelbachs Text kümmere ich mich hier nicht; ihre Korrektur überlasse ich dazu Berufeneren. Mir geht es um eine schlichte "Gegendarstellung".

1. Wie alle großen Weltreligionen verbindet auch das Christentum mit seinem Heilsanspruch einen Wahrheitsanspruch. Vieles von dem, was eine Religion lehrt und damit als Wahrheit beansprucht, wird ein aufgeklärter Religionskritiker für falsch halten, ohne deswegen die Achtung vor dieser Religion zu verlieren und ihre Lehre als Lüge zu diffamieren. Genau das aber tut Schnädelbach. Dabei darf man folgenden Unterschied nicht übersehen: Es ist etwas anderes zu behaupten, die (beziehungsweise einige) Lehren des Christentums seien unwahr, als zu behaupten, das Christentum lehre absichtlich Unwahrheiten.

2. Seinen mehrfach wiederkehrenden Vorwurf von "absichtlicher Lüge" und "dreister Fiktion" verbindet Schnädelbach mit einer umfassenden Verschwörungstheorie: In den Evangelien "wird absichtlich und zweckrational gelogen", mit der Offenbarung des Johannes hat sich "das Christentum ein Instrumentarium unablässiger Verunsicherung und Disziplinierung der ,eigenen Leute' geschaffen" - und zwar zu dem Zweck, Macht über die Menschen auszuüben und sie zu terrorisieren. So stellt sich vielleicht der sogenannte kleine Max vor, wie sich ein paar Leute vor 2000 Jahren ausgeheckt haben, das Christentum zu "machen". Da hätte es schon des Heiligen Geistes bedurft, um das alles in Gang zu setzen - und er hätte es sicher klüger und besser angestellt. Oder liegt der Analyse Schnädelbachs gar der Aberglaube an einen bösen und uns übelgesonnenen Weltgeist zu Grunde? Aberglaube als Grundlage für Glaubenskritik?

3. Eine ganz andere Frage ist, ob im Christentum nicht manche Lehren und auch biblische Texte (wie die Geheime Offenbarung) zu verschiedenen Zwecken instrumentalisiert bzw. zur Machtausübung missbraucht und dadurch schwere Schäden - besonders auch psychischer Art - angerichtet wurden. In dieser Frage ist Kritik an Protagonisten und Einrichtungen des Christentums sicher angebracht - aber darum geht es Schnädelbach ja angeblich gar nicht.

Reines Menschenwerk Was aber ist dem "verfassten Christentum" daran vorzuwerfen? Dass es diese unfassbaren Visionen des Johannes als von Gott inspiriert ansah? Dass es wagte, diesen Text in den Kanon seiner Schriften aufzunehmen? Dass es diesen Text nicht überhaupt vernichtet oder zumindest ignoriert hat? Sollen wir etwa als Religionskritiker einer Religion vorschreiben, welche Texte sie gefälligst in ihre Heiligen Schriften aufnehmen darf und welche nicht? Als aufgeklärte Religionskritiker wissen oder vermuten wir, dass die Geheime Offenbarung nicht von Gott inspiriert wurde, sondern reines Menschenwerk ist; umso weniger Anlass haben wir, dieses einzigartige Zeugnis der menschlichen Psyche, zu welchen grauenvollen Ängsten und Phantasien sie fähig ist, auszulöschen oder zu verdrängen, statt uns damit zu beschäftigen.

Kruzifixe verbieten?

Schnädelbach macht sich (berechtigte) Sorgen über die psychischen Schädigungen, die nicht nur durch einen Missbrauch religiöser Texte, sondern auch durch religiöse Symbole wie Kruzifixe entstehen können. Erst Schnädelbach hat mich darauf gebracht, dass ich eigentlich einen psychischen Knacks von den vielen Kruzifixen, die ich in meinem Leben schon gesehen habe, davontragen hätte müssen. (Warum nach Schnädelbach bayerische Kinder für Kruzifixschädigungen besonders anfällig seien und er die Kruzifixe gerade aus ihren Schulzimmern verbannen will, bleibt mir ein Rätsel. Ein Problem stellt sich in rechtlicher Hinsicht bezüglich der unzureichenden Trennung von Kirche und Staat, doch auch hier gibt es dringlicheres als die Frage nach den Kruzifixen.) Der gekreuzigte Mensch Jesus ist ein unbestrittenes historisches Faktum. Sollen wir einer Religion die Verbreitung historischer Fakten vorwerfen oder ihr vorschreiben, in welcher Dosierung diese Verbreitung erfolgen darf?

4. Nun aber zum schwerwiegenden Vorwurf: Das "verfasste Christentum" (und nicht nur seine menschlichen Protagonisten und Einrichtungen) trage die Schuld an allen möglichen Gräueltaten bis hin zum Holocaust. Solche Vorwürfe wurden schon oft und mit gutem Grund erhoben - aber nur selten in einer derart undifferenzierten Form wie von Schnädelbach. In dieser Holzhammer-Version wird der Vorwurf sicher nicht das erreichen, was er (bestenfalls) bezweckt: Schuldeinsicht, Reue, Umkehr. Er liefert vielmehr allen, die sich (auch schuldig gmacht haben, ein Alibi und eine Ausrede dafür, sich dieser Schuld nicht zu stellen, sondern sie einfach auf das Christentum abzuwälzen. Statt über Gräueltaten wie über "die letzte europäische Schauhinrichtung", die nach Schnädelbach Papst Leo XII. 1825 veranlasste, zu berichten, hätte Schädelbach von den heutigen Vertretern des Christentums besser verlangen sollen, dass sie sich nicht nur gegen die Hinrichtung anderer Christen, sondern gegen jede Exekution der Todesstrafe mit allen Mitteln zur Wehr setzen und die Todesstrafe als solche vorbehaltlos verurteilen. Hier gilt es tatsächlich, nicht nur an den Vertretern des Christentums selbst, sondern auch am verfassten Christentum Kritik zu üben: Die Passage im sogenannten Weltkatechismus ("Katechismus der katholischen Kirche" § 2266), wonach "in schwerwiegendsten Fällen die Todesstrafe" nicht auszuschließen sei, wurde meines Wissens bis heute nicht getilgt und stellt einen Skandal sondergleichen dar.

5. "Dass die Ideen der Menschenwürde und der Menschenrechte christliche Wurzeln hätten, ist ein gern geglaubtes Märchen." Der historische Prioritätsstreit um Menschenwürde und Menschrechte ist nur von akademischer Bedeutung - wir können ihn hier vernachlässigen. Dass aber in weiterer Folge alle "Verdienste des Christentums für die Ideen der Menschenwürde und Menschenrechte" geleugnet werden, steht auf einem ganz anderen Blatt Papier. Schnädelbach liefert dafür keinerlei Belege. Bei der Beurteilung dieser Frage geht es nicht darum, welche Unmenschlichkeiten von einzelnen Vertretern und im Namen des Christentums immer wieder begangen wurden, sondern darum, welchen Beitrag die Lehren des Christentums bei der Verbreitung der Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte geleistet haben.

Welt ohne Christentum Eine gerechte Antwort auf diese Frage verlangt, dass wir uns im Gedankenexperiment vorstellen, wie die Weltgeschichte der letzten 2000 Jahre ohne Christentum verlaufen wäre. Zu welchem Ergebnis wir auch kommen - es bleibt eine kontrafaktische Annahme, eine Spekulation. Nachdem ich mir eine Reihe von Szenarien durch den Kopf gehen ließ, bin ich aber überzeugt: Das Christentum braucht solche Gedankenexperimente nicht zu fürchten.

Diese Gedankenexperimente haben aber selbstverständlich keine Beweiskraft, und jeder von uns kann nur für sich selbst entscheiden, was er vorziehen würde. Wenn wir wählen könnten, würde wohl niemand die Weltgeschichte genau so wählen, wie sie tatsächlich verlaufen ist. Was aber, wenn wir nur die Wahl haben zwischen der Weltgeschichte, so wie sie tatsächlich verlaufen ist, und einem Ablauf der letzten 2000 Jahre ohne das Christentum - ohne dass wir wissen, wie diese 2000 Jahre dann ausgesehen hätten?

Auch das muss jeder für sich entscheiden. Ich will zum Schluss aber bekennen, dass ich mich für den tatsächlichen Ablauf mit dem Christentum entscheiden würde, obwohl ich mich von den Lehren dieses Christentums entfremdet habe und mich nicht mehr dazugehörig fühle. So hat die Provokation von Schnädelbach wenigstens für mich doch noch etwas Gutes gehabt: Sie hat mir ungewollt vor Augen geführt, was ich dem Christentum alles verdanke.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg.

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