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Nikolaus Geyrhalters "Abendland“ nimmt den oft beschworenen Namen des Kontinents und dessen "Untergang“ wörtlich. Beobachtungen zum Eröffnungsfilm der Diagonale 2011.

Abendland einmal wörtlich genommen: Hereinbruch der Dunkelheit. Einst ein gelobtes Land. Heute eine Hybris. Anmaßung: Sobrance, Slowakei, die Grenze zur Ukraine. Nicht die Füchse sagen hier einander gute Nacht, sondern der Außenposten des Schengenraums lässt Nacht nicht zu. Den Sichtgeräten entgeht nichts. Ein militärisch-polizeilicher Komplex soll die Ungebetenen draußen halten. Europa nichts als eine Festung. Es gibt sich zumindest so.

3000 Kilometer weiter das gleiche Bild: Zwischen der Enklave Melilla, zu Spanien gehörig, und der marokkanischen Stadt Beni Enzar ist ein Zaun errichtet. Hell erleuchtet. Keine Nacht. Die Polizei oder die Guardia Civil patrouilliert, auf dass dieses Einfallstor nach Europa geschlossen bleibe.

Und nichts anderes in der Mitte. Basel: das Flüchtlingszentrum als moderne Trutzburg. Oder ein Gefängnis - zumindest von außen. Wer hier gelandet ist, hat es zwar ins Abendland geschafft. Doch die freundliche Rückkehrberaterin wendet all ihre Redekunst auf, um den Flüchtling mit nachhaltig negativen Asylbescheiden zum Besteigen eines Flugzeugs zu bewegen, das ihn wieder in die "Heimat“ zurückfliegt, die er hinter sich lassen wollte.

Nikolaus Geyrhalter, der österreichische Dokumentarfilmer von Rang, hat zwei Jahre lang Europa kreuz und quer bereist und in karger Filmsprache Szene um Szene zu einem eindrücklichen "Filmgedicht“ komponiert: "Abendland“ ist eine lakonische, fast sprachlose Reportage aus der Dämmerung eines Kontinents. Dass in diesem Land die Sonne untergeht, hat er dessen Namen entnommen - und spürt diesem Wortsinn mit Kamera und Schnitttechnik nach. Atemberaubende 90 Minuten lang. Ein Untergang in vielen Szenen. Verlorene Paradiese. Und gleichzeitig doch Lebensort für viele.

Videoüberwachung in London: Vor einer monströsen Monitorwand sitzen die Beobachter, die Herrn X und Frau Y zuschauen. Große Brüder zuhauf, welche abgestellt sind, der Sicherheit in den Straßen zu dienen. Nur der Sicherheit? Dann ein Hardcore-Techno-Festival im niederländischen Arnheim - Tausende Leiber bewegen sich rhythmisch zu den harten Klängen.

Alltagsszenen der Nacht

Oder das Münchner Oktoberfest, wo resche Kellnerinnen monströse Tabletts mit Hendlhälften Trillerpfeifen blasend durch die schiere Masse manövrieren und die Sanitäter Alkoholleichen zurück ins Leben holen - Speibkübel im Dutzend inklusive.

Es sind Alltagsszenen der Nacht, die Geyrhalter seinem Publikum wie einen Spiegel vorhält. Kein Spektakel, aber: Das Europa, das hier gezeigt wird, kennt keinen Schlaf, darf ihn nicht kennen wie der junge Pfleger in einem Altenheim, der seinen Klienten/Patienten die nötigen Medikamente verabreicht und sie wenigstens alle paar Stunden von einer Seite auf die andere umlegt. Das Wachen gilt auch für die Säuglingsschwester auf einer Neonatologie-Station, wo Frühchen um ihr Dasein kämpfen und dennoch liebevoll betreut werden inmitten der Schläuche und Monitore, die ihr Leben am seidenen Faden überwachen.

Da mutet der alte Papst auf dem nächtlichen Petersplatz in Rom fremd an, vor Tausenden Priestern spricht er und fährt im offenen Wagen durch die Menge kollargekleideter Gottesmänner. Dann der Newsroom eines TV-Kanals in Großbritannien - ein Wahnsinn auf seine Weise, ebenso wie das Krematorium, wo die Särge mit Toten quasi am Fließband ins Feuer geschickt werden. Fast unwirklich schließlich ein Ausschuss des Europäischen Parlaments in Brüssel, wo gleichfalls bis in die Nacht hinein und begleitet von Übersetzerinnen im Dutzend debattiert wird.

"Wer im Paradies lebt, muss gut darauf aufpassen.“ So charakterisiert Nikolaus Geyrhalter den filmischen Zugang zu diesem vor sich hin dämmernden Europa: "Hier wird man nicht verhungern, nicht schon mit 40 Jahren sterben und muss gegenwärtig weder Krieg noch politische Verfolgung fürchten.“ Doch all das ist nur um den Preis der Grenzen und Zäune zu haben, die der Film "Abendland“ an seinen Anfang und sein Ende stellt - und auch mittendrin im Kontinent und in diesem Film steckt all dies drinnen.

Dass Europa ein geliehenes Paradies für beileibe nicht alle Menschen, nicht einmal für die, die diesen Teil der Erde bevölkern, darstellt, wird durch solchen Essay in Filmform offenbar. Auch dass die Dämmerung dieses Lebensraums auch ein Faktum bleibt, schimmert zwischen den Zeilen dieser Montage unübersehbar durch.

Es war eine nachvollziehbare Entscheidung, solchen Dokumentarfilm für die Eröffnung der diesjährigen Diagonale vorzusehen. Das Genre Spielfilm, mit dem Österreich in den letzten Jahren auch international so reüssieren konnte, schien zuletzt - mit Ausnahme von Marie Kreutzers Erstling "Die Vaterlosen“ (vgl. Seite 22/23) - ausgereizt.

Verirrte Dokumentarfilmer(innen)

Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass sich bekannte heimische Dokumentarfilmer(innen) ins fiktionale Œuvre verirrten - und scheiterten: Elisabeth Scharangs Versuch, das Ende des Dritten Reiches durch eine Operettenaufführung zu illustrieren ("Vielleicht in einem anderen Leben“) überzeugte ebenso wenig wie Erwin Wagenhofers erster Spielfilm "Black Brown White“. Letzterer erzählt ja nichts anderes, als es auch "Abendland“ macht. Aber Nikolaus Geyrhalter bleibt bei seinem Leisten - und das ist richtig, während Erwin Wagenhofer mit einem durch und durch pädagogischen Impetus seinen Film nichts Gutes tat. Zuletzt bescherte noch der an sich geeichte Spielfilmer Wolfgang Murnberger mit "Mein bester Feind“ eine verzichtbare Komödiantisierung der NS-Zeit.

Nicht jedes Filmjahr bringt Oscar-Nominierungen und renommierte Filmpreise. Aber "Abendland“ liefert jedenfalls den Nachweis dafür, dass mit dem österreichischen Filmschaffen, wenn es innovativ und formal bestechend bleibt, weiterhin zu rechnen ist. Und das ist in einem Land, wo die Möglichkeiten, Film zu machen, mit den großen Filmnationen nach wie vor nicht einmal im Ansatz vergleichbar sind, doch eine Perspektive, die erstaunlich scheint.

Nikolaus Geyrhalters "Abendland“ könnte man taxfrei auch mit "Gute Nacht, Europa!“ übertiteln. Der österreichische Film braucht sich nicht vor solcher Dämmerung aber keineswegs zu fürchten.

Abendland

A 2011 Regie: Nikolaus Geyrhalter

Stadtkino. 90 Min.

Eröffnungsfilm der Diagonale.

Im Kino ab 1. 4.

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