Nicht von dieser Welt

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Fundamentalismus gibt es heute noch in seiner calvinistischen Spielart: So führen – etwa in den Niederlanden – ultraorthodoxe Calvinisten ein Dasein am Rande der Gesellschaft.

Sie wollen einen Gottesstaat. In ihren Kreisen ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein Fremdwort, und Homosexualität gilt auch im 21. Jahrhundert als Sünde. Sie leben im offenen Widerspruch zu Verfassung und Mehrheitsgesellschaft. Gegen ihre Partei lief bereits ein Verbotsverfahren. Die Rede ist nicht von islamischen Fundamentalisten, sondern von einer Gruppe, die bereits wesentlich länger und gleichwohl unauffälliger in den Niederlanden lebt. Radikale Calvinisten, auch bekannt als „Ultra-Reformierte“, sind der lebende Beweis, dass sich Parallelgesellschaften längst nicht immer über Zottelbärte, Djellabahs und Pluderhosen definieren.

Ihre Ausnahmestellung erklärt sich durch die tiefgreifenden sozialen Veränderungen der letzten 50 Jahren. Ab den 1960ern lösten sich die festen Strukturen einer Gesellschaft auf, die die niederländische Bevölkerung in einen katholischen, einen protestantischen, einen liberalen und einen sozialistisch-sozialdemokratischen Block unterteilten. Innerhalb dieser „Säulen“ war von Bildung und Gesundheitswesen über Partei und Arbeitervertretung bis hin zu Medien und Sport die gesamte Infrastruktur des öffentlichen Lebens verfasst.

Ein halbes Jahrhundert später sind die Reste zwar noch sichtbar, doch ein Leben in den engen Grenzen der früheren Säulen erscheint den meisten Menschen als Absurdität. Die rund 300.000 strenggläubigen Anhänger der reinen Lehre Calvins sind das trotzige Überbleibsel dieser Entwicklungen. „Bible Belt“ nennt man die ländlichen Gegenden, in denen sich ihre Gemeinschaften finden, in Anlehnung an die USA. Er zieht sich von Südwesten bis in den Nordosten einmal diagonal durch die hochgradig urbanisierten Niederlande. Ihr zurückgezogenes Dasein in kleinen, engen Gemeinschaften macht sie zu Exoten im eigenen Land.

Kontrapunkt zur Liberalisierung

Die Auffassungen der Ultraorthodoxen bilden einen Kontrapunkt zu dieser Liberalisierung. Ihr Wertesystem basiert auf der Bibel als absolutem und unfehlbarem Ausdruck des Willen Gottes. Dabei wird weitgehend die erste offizielle niederländische Übersetzung aus dem Jahr 1618 gebraucht. Späteren Versionen misstraut man ebenso wie moderateren Varianten des Calvinismus, und Exegese und Interpretationen sind tabu. Die Bedeutung der Bibel und ihre wörtliche Auslegung tauchen indes auch bei gemäßigt Reformierten auf. Ebenso wenig exklusiv ist das pessimistische Menschenbild, nach dem nur aus Gottes Gnade, Christus, dem Glauben und dem Bibelstudium Rettung aus der ewigen Sünde erwachsen könne. Auch der bei Calvin zentrale Gedanke der Prädestination nimmt im gesamten reformatorischen Spektrum einen prominenten Platz ein.

Was die Radikalen dagegen vom reformierten Mainstream abhebt, sind die Schlüsse, die sie daraus für ihr tägliches Leben ziehen. Im niederländischen Calvinismus stehen eine verwirrende Vielzahl unterschiedlicher Strömungen nebeneinander. Diese resultieren aus den regelmäßigen Abspaltungen, die die Suche nach der reinen Lehre gerade im 19. und 20. Jahrhundert mit sich brachte. Daher lassen sich die Ultraorthodoxen kaum einer bestimmten Gruppierung zuordnen. Eine Ausnahme bildet höchstens die mit 15.000 Mitgliedern sehr kleine Kirche der Altreformierten. Die übergreifende Bezeichnung bevindelijk gereformeerd (am passendsten übersetzt mit „gelebt“ im Gegensatz zur reinen Theorie) trifft jedoch inhaltlich den Kern: Radikale Calvinisten wollen ihrem Glauben durch Lebenshaltung und Einstellung Ausdruck verleihen. Dazu gehören der zwei-, mancherorts dreimalige Kirchgang am Sonntag und intensives Bibel-Studium.

Familie im Zentrum

Im Leben der Gläubigen nimmt die Familie eine zentrale Stellung ein: zehn und mehr Kinder sind auch heute keine Seltenheit. Die Aufgabe der Frau ist es, sich Haushalt und Erziehung zu widmen. Die starke soziale Kontrolle in solchen Gemeinschaften umfasst Hausbesuche und Sanktionen bis hin zur Exkommunizierung.

Wie andere religiöse Fundamentalisten verwirft auch die reformierte Vorhut das profane Leben der Mehrheitsgesellschaft mit seiner Zerstreuung und vermeintlichem moralischem Verfall. Dass Ultrareformierte keinen Fernseher haben, weiß in den Niederlanden jedes Kind – auch wenn das Gros der Bevölkerung kaum jemals mit ihnen in Kontakt kommt. Kritisch beäugt werden auch Theater, Kino, Internet und Popkultur. Den losen Sitten da draußen begegnet man mit züchtiger puritanistischer Lagermentalität. „Auf der Welt, aber nicht von der Welt“ ist eine geläufige Bestimmung des eigenen Standorts. Schon äußerlich heben sich die Fundamentalisten ab: die Männer tragen strenge Seitenscheitel, die Frauen Knoten im Haar und lange schwarze Röcke. Der Außenwelt dienen sie als halb belächeltes, halb bemitleidenswertes Objekt einschlägiger Zoten. Aufmerksamkeit erregen sie meist nur mit Kuriositäten. So zum Beispiel, wenn sie in der Provinz Zeeland eine Etappe der Tour de France 2010 verhindern wollen, die sonntags durch einige ultrareformierte Dörfer führen soll. Der Sonntag ist in diesen Gegenden nach wie vor heilig, und Arbeit ist streng verboten.

Politische Folgen

Die Verweigerungshaltung der Calvinisten hat indes durchaus ernste Folgen, die über die reine Abkehr von Hedonismus und Sinnesfreude hinausgehen. So können Ultraorthodoxe Gewissensgründe geltend machen, um gegen eine Extrasteuer von der Pflicht zur Krankenversicherung entbunden zu werden. Diese Art der Vorsorge ist mit ihrer Überzeugung nicht vereinbar, das menschliche Schicksal sei durch Gott vorbestimmt. In den Schlagzeilen landen sie zudem immer wieder, weil die Radikalsten unter ihnen die Impfungen ihrer Kinder ablehnen. Ultraorthodoxe leben meist in hoher Konzentration in ländlichen Gebieten. Kombiniert mit den hohen Kinderzahlen dieser Familien ist es wenig erstaunlich, dass es dort wiederholt zu Epidemien kommt. Zuletzt gab es 1999 eine Masern- und 2008 eine Mumpswelle.

Auf politischer Ebene vertritt die „Staatskundig Reformierte Partei (SGP)“ die Interessen der Ultrareformierten. Sie sieht die Bibel als Richtlinie staatlichen Handelns und trachtet nach einem Königreich Gottes. Da dies jedoch ohne menschliches Zutun entstehen soll, geht politische Gewalt von radikalen Calvinisten nicht aus. Im Gegenteil: Wer die Kriterien göttlicher Auserwähltheit so eng fasst wie sie, für den ist nicht einmal aggressives Missionieren zulässig. Dafür sorgte die SGP in den letzten Jahren für einen Eklat, als sie aus der Bibel meinte abzuleiten, Frauen hätten kein passives Wahlrecht. Zwischen 2005 und 2007 landete die SGP dafür vor mehreren gerichtlichen Instanzen. Zwischenzeitlich stellte der Staat auf richterlichen Befehl die Subventionen an die Partei ein. Die Anklage, eine Stiftung, die die rechtliche Position von Frauen verbessern will, hatte ein Verbot gefordert.

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