Panik! Es droht der Untergang

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Der Dekadenz-und Verfallsdiskurs, der immer mehr um sich greift, wird zur lösung von Europas Problemen kaum etwas beitragen.

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Der Dekadenz-und Verfallsdiskurs, der immer mehr um sich greift, wird zur lösung von Europas Problemen kaum etwas beitragen.

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Es häufen sich die Anzeichen, dass unter europäischen Intellektuellen der Dekadenz-und Verfallsdiskurs eine Wiederkehr erlebt - nach Jahren der Tabuisierung. Der Schriftsteller Michel Houellebecq schildert in seinem Roman "Unterwerfung" (2015) die Übernahme der französischen Regierung durch einen gemäßigten muslimischen Politiker im Jahre 2022. Der Ich-Erzähler François, intelligent, hedonistisch, lebensmüde, bequem, orientierungslos und egozentrisch, unterwirft sich am Ende "islamischen Werten" und einer islamischen Regierung. In der vorbehaltlosen Aufgabe all dessen, was die modernen "europäischen Werte" ausmachen sollen, etwa Aufklärung, Individualismus oder Frauenrechte, besteht seine Dekadenz.

Im Roman heißt es, das Abendland habe "einen solchen Grad der abscheuerregenden Verwesung erreicht", dass es "nicht mehr fähig [sei], sich selbst zu retten -ebenso wenig, wie es das antike Rom im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung vermocht habe." Der Philosoph Slavoj Z i zek hat sich in einem Interview dieser Verfallstheorie angeschlossen. Houellebecq habe verstanden, "dass das wahre Problem nicht die muslimische Bedrohung von außen ist, sondern unsere eigene Dekadenz"(Standard, 24.1.2015).

Warnung vor der Islamisierung Europas

Der Wiener Politikwissenschafter Michael Ley weitet diese Diagnose in "Der Selbstmord des Abendlandes. Die Islamisierung Europas" (2015) zu einer geschichtsphilosophischen Theorie aus. Im Hintergrund stehen Verfallstheorien wie jene von Will Durant aus der Mitte des 20. Jahrhunderts: "A great civilization is not conquered from without until it has destroyed itself within. The essential causes of Rome's decline lay in her people, her morals "

Markus Goritschnig sieht die Gefahr von "Mitteleuropas Islamisierung" und wirft den Befürwortern der Willkommenskultur Dekadenz vor, definiert als "Fokussierung auf Nahziele wie rasche Bedürfnisbefriedigung, und durch die Abwesenheit beziehungsweise bodenlose Verkennung eigener Fernziele. [] Dekadent im weiteren Sinn ist es außerdem zu übersehen, dass auch Verfassungen -demokratisch ganz zurecht - mit entsprechenden Mehrheiten geändert werden können"(Die Presse, 7.1.2016).

Ausdruck einer tief empfundenen Krise?

Das ist ein Tabubruch. Lange konnte der Dekadenz-und Verfallsdiskurs aus der Öffentlichkeit gedrängt werden. Dieser ist mit den üblichen Anspielungen auf den Untergang Roms bei Machiavelli und Montesquieu genauso zu finden wie bei Oswald Spengler, dem Begründer der Pfadfinder Lord Baden-Powell oder anderen konservativen Denkern des 19. und 20. Jahrhunderts. Da Hitler und die Nationalsozialisten auch Dekadenzund Verfallstheorien vertreten haben, wurden diese offenbar nach 1945 tabuisiert.

Ausgangspunkt fast aller gegenwärtigen Theorien sind die demographischen Veränderungen in Europa, vor allem der Geburtenrückgang seit über 100 Jahren, in Frankreich schon seit 1800. Herwig Birg und andere Experten halten die Eckdaten bereit. Ohne Einwanderung würde die Bevölkerung Deutschlands bis 2050 von 82 auf 51 Millionen schrumpfen, mit einem Rückgang der Zahl der Jugendlichen unter 20 Jahren von etwa 18 Millionen (1998) auf weniger als 10 Millionen. Wachstum wird nur bei den über 80-Jährigen vorausgesagt: von drei auf zehn Millionen (Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende, 2001). Der US-Historiker Walter Laqueur sprach schon 2006 in "Die letzten Tage von Europa: Ein Kontient verändert sein Gesicht", von der "Welt" als "erschütternden Abgesang auf Europa": "Wenn wir annehmen, dass auch in 50 Jahren noch bewaffnete Streitkräfte erforderlich sind, stellt sich die Frage, woher Europas Soldaten dann noch kommen sollen".

Lange haben die Europäer und Europäerinnen diese Frage vermieden oder waren so naiv zu glauben, dass eine friedliche Welt kommen wird, in der Armeen überflüssig sind. Die Realität hat diese Hoffnung begraben. Die Rhetorik: "Machen wir das Beste daraus" und "Wir schaffen das", klingt angesichts der massiven Probleme mit der Integration von Immigrantinnen und Immigranten vor allem aus islamisch geprägten Ländern immer weniger überzeugend. Die deutsche grüne Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt muss bei bemüht politisch-korrekten Statements wie "Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich darauf" mit mitleidigem Lächeln rechnen.

Auch islamisch geprägte Länder dekadent?

Wie steht es um den Wahrheitsgehalt dieser Dekadenz-und Verfallstheorien? Wie wird Dekadenz definiert? Vielleicht ist das moderne Teheran genauso dekadent wie New York? Immerhin gibt es auch in muslimisch geprägten Ländern mittlerweile Stimmen, die vor einem Verfall der eigenen Gesellschaften warnen oder diesen bereits diagnostizieren. Die britisch-iranische Journalistin und Schriftstellerin Ramita Navai schildert in "City of Lies" (2015) ein dekadentes Teheran, wo ein autoritäres Regime offenbar vergeblich gegen Drogen- und Alkoholmissbrauch, Ehebruch, Promiskuität, Prostitution, Korruption und Homosexualität kämpft. Der jordanische Prinz und Philosoph Ghazi bin Muhammad bin Talal sieht die muslimische Welt massiv von sozialen, religiösen und moralischen Krisen bedroht (What has broken, 2015).

Und der deutsch-ägyptische Publizist Hamed Abdel-Samad meint, dass die Menschen der meisten islamisch geprägten Staaten mittlerweile auch der Konsummentalität und dem Materialismus verfallen seien. Im Gegensatz zu Europa hätten die Muslime aber nicht die kulturellen Ressourcen der Aufklärung und des Humanismus, um ein Gegengewicht zu bilden.

Ein Konflikt der Geschichtsphilosophien

Die Demografen Youssef Courbage und Emmanuel Todd geben überhaupt Entwarnung. Sie verweisen auf weltweit ähnliche Prozesse, wenn es um Phänomene wie Geburtenrückgang, Alphabetisierungsrate oder Familienstrukturen geht. Europa habe einfach früher mit diesen Entwicklungen begonnen als der Nahe Osten. Sie begründen ihren Optimismus damit, dass "die Modernisierung der Einstellungen" ausgehend von Europa die ganze Welt erfasst habe. "Die Bahnen, auf denen sich die Völker der Welt, die verschiedenen Kulturen und Religionen weiterentwickeln, streben aufeinander zu."

Bei der Debatte findet nicht ein Konflikt der Kulturen, sondern der Geschichtsphilosophien statt. Beide Varianten, sowohl die der Verfallstheoretiker als auch der Optimisten, enthalten spekulative Elemente, die nicht nachweisbar sind. Beide Seiten berufen sich auf Statistiken, Fakten und Belege, die aber unterschiedlich interpretiert werden können. Der erneuerte Dekadenz-und Verfallsdiskurs wird wohl keinen konstruktiven Beitrag zur Lösung von Europas Problemen leisten -aber er ist ein Symptom für die kulturellen tektonischen Verschiebungen, die es in unserer schrumpfenden autochthonen Bevölkerung gibt.

Der Autor ist u. a. Lehrbeauftragter für Philosophie an der Uni Wien und schreibt an einem Buch über Islam, Aufklärung, Moderne und die erweiterte Denkungsart

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