Kapitalismus-Aussteiger

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Im Gegensatz zur Politik seines Präsidenten Lula erlebt die "solidarische Ökonomie" von Staatssekretär Paul Singer in Brasilien Hochkonjunktur. 20.000 Betriebe und mehr als zwei Millionen Beschäftigte präsentieren sich als Alternative zum Kapitalismus.

Die "solidarische Ökonomie" entstand in Brasilien als Antwort auf eine wirtschaftliche Krise: In den 1980er Jahren plagten schwere Zeiten das Land, nach dem Zins-Sprung in den usa schoss auch in Brasilien der Geldpreis in die Höhe, zahlreiche Unternehmen gingen Pleite. "Bei Volkswagen gab es 5000 Kündigungen, ähnlich viele waren es bei anderen Industriebetrieben, es herrschte Krisenstimmung", erinnert sich Paul Singer, Staatssekretär für Solidarische Ökonomie. Für den 73-Jährigen war das eine neue Erfahrung: "Meine Generation kannte keine Arbeitslosigkeit."

Die solidarische Ökonomie entstand gleichzeitig an mehreren Fronten: Zum Teil übernahmen die Arbeiter und Arbeiterinnen insolvente Industriebetriebe, etwa eine Schuh- und eine Zuckerrohrfabrik. Zum Teil bauten mildtätige Organisationen wie die Caritas Netzwerke "alternativer Gemeindeprojekte" auf. Zum Teil schlossen sich arbeitslose und arme Menschen zusammen und gründeten Genossenschaften. Und zum Teil entwickelten sich informelle Wirtschaftsstrukturen in den indigenen und schwarzen Gemeinden ehemaliger Plantagensklaven. Singer legt Wert darauf, dass die solidarische Ökonomie kein einheitliches Modell ist, sondern sich aus unterschiedlichen Quellen speist.

Arbeiter kaufen Fabrik

Von Vielfalt geprägt ist auch die Palette der Produkte und Dienstleistungen, der Schwerpunkt liegt beim Handwerk: Wolle, Holz, Stroh, Heilpflanzen, Schuhe, Müll, Reparaturen etc. Die Mehrzahl der Betriebe ist klein und gehört dem informellen Sektor an, doch es gibt auch GesmbHs und sogar Aktiengesellschaften. Einer der Riesen ist die Zuckerrohrfabrik "Catende" im Nordosten Brasiliens mit mehr als 26.000 Hektar Anbaufläche. Sie ging wie so viele andere Großbetriebe in der Wirtschaftskrise Pleite. Doch die Arbeiter pachteten das Unternehmen vom Masseverwalter und führten es weiter. Nach Abschluss des Konkursverfahrens - dieses dauert in Brasilien "im Durchschnitt sieben Jahre" - wollen sie die Fabrik kaufen.

Devise: zusammenhelfen

Die meisten formalen solidarischen Betriebe sind Genossenschaften. Sie stehen unter Selbstverwaltung und sind demokratisch organisiert - jede und jeder Beschäftigte hat eine Stimme.

Zu den größten Anfangsschwierigkeiten zählt das Fremdkapital - aufgrund horrender Zinsen. Als Ausweg werden Kreditgenossenschaften gegründet: Die solidarischen Unternehmen belehnen sich selbst. Im ganzen Land gibt es bereits 1400 Kreditgenossenschaften. Die Regierung schießt ihnen über die eigens gegründete "Banco Popular do Brasil" Geld zu. Zusätzlich vergeben zahlreiche kommunale Volksbanken Mikrokredite.

Auch andere Formen des Nicht-Banken-Kredits helfen den solidarischen Betrieben, zum Beispiel "Handelskredite": Die Zulieferer stunden die Rechnungen so lange, bis das Unternehmen (wieder) floriert. In der Regel ist das nach wenigen Monaten der Fall, dann gibt es auch die ersten regulären Löhne. In der Anfangsphase helfen alle zusammen: Die Caritas spendet Essen, die Familien geben ihr Erspartes, die Zulieferer liefern auf Pump, und die Verbände der Solidarökonomie beraten bei Finanzierung, Marketing und Buchhaltung.

Die Antwort auf die Frage, ob die solidarische Ökonomie "charakterbildend" wirke, fällt Singer leicht: "Die Menschen lernen, einander zu helfen. Je ärmer die Menschen, desto stärker sind sie auf gegenseitige Hilfe angewiesen", meint er. Ein Beispiel fällt ihm auch ein: "Die ersten Gewinne der Zuckerfabrik Catende wurden in ein Alphabetisierungsprogramm gesteckt, damit alle in der Lage waren, die Verträge zu lesen und die Buchhaltung zu machen."

Die Verwaltung wird in kleineren Betrieben im Rotationsprinzip erledigt. In den größeren Betrieben braucht es Delegierte. Die Statuten der meisten Genossenschaften begrenzen die Wiederwahl auf 50 Prozent der Delegierten, damit alle eine Chance bekommen und der Wissensunterschied nicht zu groß wird. Und wenn es überhaupt Unterschiede in der Entlohnung gibt - aufgrund höherer Arbeitsbelastung oder Verantwortung -, dann sind sie sehr begrenzt, etwa mit "dem Dreifachen". In den Großbetrieben sank das Lohndifferenzial von 1 zu 150 auf 1 zu 10.

Achillesferse Vertrieb

Der Vertrieb ist - neben der Finanzierung - die zweite Achillesferse vieler solidarischer Betriebe. Hintergrund: Ein Schwerpunkt der solidarischen Ökonomie ist der Faire Handel, und hier befindet sich das Vertriebsnetz in Brasilien erst im Aufbau. Aber es gibt auch schon Vertriebserfolge. Singer erzählt von einer Fischereigenossenschaft im Bundesstaat Mato Grosso, die während der Schonzeit nicht viel zu tun hatte - bis ein Physikprofessor einen Dörrofen entwickelte - nicht für Fische, sondern für Früchte. Das Ergebnis: Die Trockenfrüchte sind so gut, das sie heute von der größten Supermarktkette des Bundesstaates vertrieben werden.

Solidarische Modeschauen

In einem anderen Erfolgsfall ist die solidarische Ökonomie zu einer ganzen Kette verwachsen. Im Norden Brasiliens wird biologische Baumwolle in Solidarbetrieben angebaut, die in Spinnereien und Webereien im Süden zu Wolle verwoben, endgefertigt und verkauft wird. Hervorgegangen ist die Kette aus der Taschenproduktion für das Weltsozialforum (60.000 Taschen), heute wird eine breite Palette von Textilien gefertigt, es gibt sogar schon solidarische Modeschauen.

Die Regierung fördert den Sektor nicht nur mit Banken, sondern auch über "incubadoras". Diese "Brutstätten der solidarischen Ökonomie" sind Universitätsabteilungen, die den Austausch zwischen der Theorie der solidarischen Ökonomie und den Betrieben vor Ort fördern, mit nachhaltigem Erfolg: "Viele Studenten wollen danach nicht mehr in die reguläre Wirtschaft zurück, sie bleiben in der solidarischen Ökonomie."

Frage an Paul Singer: Kann Europa von dem Modell lernen? Antwort vom Staatssekretär: "Das Modell stammt aus Europa." Seit dem Beginn des Kapitalismus habe es in fast allen Ländern Agrar- und Arbeitergenossenschaften gegeben, von England und Frankreich über das Baskenland bis - ganz aktuell - in Ex-Jugoslawien.

Das Staatssekretariat organisiert auch gemeinsam mit dem Forum der brasilianischen solidarischen Ökonomie die Vernetzung. Zu einem Delegiertentreffen im Sommer 2005 wurden 800 Personen erwartet. "Am Ende waren 2400 da", berichtet Singer stolz. Das Budget seines Staatssekretariats ist mit umgerechnet rund 3,5 Millionen Euro hingegen eher bescheiden. Mit Spannung erwartet wird dieser Tage eine große Studie über die solidarische Ökonomie Brasiliens. Dann weiß man nicht nur etwas genauer über das Wesen eines teilweise noch unbekannten Wirtschaftssektors Bescheid, sondern "dann haben alle alle Adressen und Telefonnummern und können sich vernetzen und Erfahrungen austauschen", erklärt Singer ein Ziel der Studie.

Unabhängig vom Staat

Das mache sie dann auch noch unabhängiger von zukünftiger staatlicher Unterstützung. Denn ob eine andere Regierung Geld zuschießen oder freundliche Gesetze erlassen wird, ist völlig ungewiss. Einen triftigen Grund für die gegenteilige Annahme gibt es: Die aktuelle Regierung sieht in der Unterstützung der solidarischen Ökonomie pragmatisch einen Weg zur Bekämpfung der Armut. Die "Bewegung" hingegen sehe darin einen Weg zum "Ausstieg aus dem Kapitalismus".

Der Autor ist freier Publizist. www.christian-felber.at

Im Februar wird eine Diplomarbeit von Markus Auinger zum Thema unter dem Titel "Demokratisierungsimpulse der ArbeiterInnenbewegung in Pernambuco/Brasilien" fertig und kann dann in der Bibliothek der Wirtschaftsuniversität Wien entlehnt werden.

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