Das schmutzige Erbe der GOLDENEN ZEITEN

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In den vergangenen Jahrzehnten war die Globalisierung bei weitem nicht nur ein Blatt von Ruhm und Reichtum. Zu wenige profitierten - noch immer.

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In den vergangenen Jahrzehnten war die Globalisierung bei weitem nicht nur ein Blatt von Ruhm und Reichtum. Zu wenige profitierten - noch immer.

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In Wien war kürzlich der Film "Das gute Leben" des deutschen Dokumentarfilmers Jens Schanze zu sehen, der das Schicksal der Dorfgemeinschaft Tamaquito der indigenen Wayúu in der kolumbianischen Guajira schildert. Die Menschen leben dort in bescheidenem Wohlstand, den ihnen die Natur gewährt. Der Bach, der durch das Dorf fließt, liefert ausreichend Fische und bietet den Kindern einen natürlichen wie erfrischenden Spielplatz. Der Boden ist fruchtbar und erlaubt den Anbau der Grundnahrungsmittel. Ab und zu wird ein Leguan erlegt oder ein Schaf geschlachtet. Der Verkauf von Kunsthandwerk in der nahegelegenen Stadt verschafft auch den Frauen ein kleines Einkommen. Die Idylle findet ihr Ende, als der staatliche Kohlekonzern Cerrejón das Territorium für die Ausweitung seiner Förderungen beansprucht. Exporte nach Deutschland und in die Niederlande würden das notwendig machen. Den Menschen wird die Umsiedlung auf ein gleichwertiges Grundstück angeboten.

Versprochen, gebrochen

Der Konzern werde sich um alles kümmern, Häuser bauen und allfällige Probleme lösen. Schweren Herzens willigen die Einwohner von Tamaquito ein und beziehen ihre Ziegelhäuser im neuen Dorf. Dort haben sie zwar Klos und Duschen im Haus, aber nach wenigen Wochen kommt aus den Duschen kein Wasser mehr. Die neu angelegten Felder verdorren und die Leute von El Cerrejón, die einst versprachen, man könne sie jederzeit anrufen, heben das Telefon nicht mehr ab. Wo einst Tamaquito lag, sind inzwischen Wohnanlagen für die Manager entstanden.

Als nach der Selbstauflösung des realsozialistischen Lagers die Welt zusammenrückte und der Globalsierungsdiskurs um sich griff, machte der Begriff der 20-80-Gesellschaft die Runde. Man ging davon aus, dass im 21. Jahrhundert dank Automatisierung und Digitalisierung die gesamte Wertschöpfung des Planeten von einem Fünftel der verfügbaren Arbeitskräfte erledigt werden könne. Die restlichen vier Fünftel wären entbehrliche Masse, menschlicher Ausschuss, der irgendwie durchgefüttert und bei Laune gehalten werden müsse. Der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Bzezinski prägte den Begriff tittytainment, der sich zusammensetzt aus den englischen Wörtern für Titten (in ihrer Doppelbedeutung als Nahrungsspenderinnen und Sexobjekt) und Unterhaltung. Im ersten Kapitel des globalisierungskritischen Klassikers "Die Globalisierungsfalle" schildern Hans-Peter Martin und Harald Schumann ein Treffen von 500 führenden Politikern, Wirtschaftsführern und Wissenschaftlern aus allen Kontinenten im Fairmont Hotel von San Francisco, wo in oft zynischer Weise Pläne für die Welt nach dem Siegeszug des Kapitalismus entworfen wurden. 80 Prozent Globalisierungsverlierer wurden dabei einkalkuliert.

Kriege als Bindungsmittel

Plädoyers für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus der neoliberalen Ecke gehen auf diese Rechnung zurück. Dass die wirtschaftliche Elite der Welt als alternative Beschäftigungen auch die Besiedelung anderer Himmelskörper vorgesehen habe oder angeregt hätte, neue Kriege anzuzetteln, gehört ins Reich der Verschwörungstheorien, solange keine belastbaren Quellen dazu zitiert werden. Doch die Vermehrung der Kriegsherde in jüngster Zeit und mutwillig vom Zaun gebrochene militärische Konflikte lassen den Krieg als dauerhaftes Mittel der Bindung menschlicher Arbeitskraft als durchaus real erscheinen.

Der finnische Konzern Nokia hat vorexerziert, wie leicht ein Produktionsbetrieb in der globalisierten Welt von einem Land in ein anderes verlegt werden kann, sobald die Lohnkosten steigen und die fiskalischen Anreize ausgeschöpft sind. Der Mobilfunkgigant zog 2008 vom deutschen Bochum ins rumänische Cluj und sperrte dort 2012 wieder zu, um in einen Industriepark östlich der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi zu übersiedeln. Zurück bleiben Industriebrachen und überflüssige Arbeitskräfte. Sowohl das sogenannte Prekariat - Beschäftigte, die von ihrem Einkommen nicht leben können -als auch die "Leiharbeitsagenturen" sind ein Produkt der Globalisierung. Den Humanressorcen, wie es im Business-Deutsch so schön heisst, billigt man heute keine Lebensplanung mehr zu. Immer mehr müssen als Arbeitskraftreserve jederzeit bereit stehen, genießen aber keinen Schutz durch Gewerkschaften und Kollektivverträge und müssen für ihre Versicherung selbst sorgen.

Globalisierte Weststrategien

Sprach man zum Ende des vergangenen Jahrhunderts noch von der Fünftelgesellschaft, so scheint die Zahl der tatsächlichen Globalisierungsgewinner heute noch geringer. Ein Oxfam-Bericht hat ja kürzlich das Vermögen der acht reichsten Männer mit dem von 3,6 Milliarden Menschen oder der ärmeren Hälfte der Menschheit gleichgesetzt. Die deutschen Ökonomen Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf sprechen in einem Aufsatz von "der Globalisierung des einen Prozent", die gegen "alles, was den westlichen Lebensstil gefährden könnte, in Stellung gebracht" werde. Für viele Länder im Süden sei das nichts Neues, denn im Zuge von "Strukturanpassungsprogrammen", die ihnen der Weltwährungsfonds aufzwang, hätten diese schon seit den 1980er-Jahren die Gegenwart des "euroamerikanischen" Westens vorweggenommen. Im Wesentlichen bestehen diese Programme in der Beschneidung staatlicher Leistungen, auf die die Reichen nicht angewiesen sind. "Regierungsfunktionen unterliegen dem Outsourcing an private, gewinnorientierte Akteure und an alle Arten von zivilgesellschaftlichen Organisationen", heißt es in dem Aufsatz, "Im Zeichen von 'Sicherheit' und vorgeblichen nationalen Interessen wird dabei auf Transparenz weitgehend verzichtet - nicht jedoch auf die Grenzen des Staates - im Gegenteil: Das Territorium des Staates wird zum massiv geschützen 'Homeland'". Ausgebaut wird der Staat nur im Sicherheitsbereich.

Die Mär vom Freihandel

Die Frohbotschaft, dass Freihandel alle erlösen und reich machen werde, wird gerne von Vertretern der Industriestaaten gepredigt. Doch schon seit der Entwicklung des Liberalismus im 18. Jahrhundert weisen Ökonomen wie Friedrich List darauf hin, dass die Industrieländer nicht durch Freihandel, sondern durch Zölle und Abschottung die Grundlage für ihren Reichtum gelegt hätten.

Das trifft auf die USA genauso zu wie auf die ostasiatischen Tigerstaaten, die sich erst öffneten, als der Industrialisierungsprozess bereits fortgeschritten war.

Regierungen von Ländern, die um Investoren konkurrieren, machen sich zu Komplizen von Landraub und Vertreibungen, wenn sie den Anbau von Exportmonokulturen durch transnationale Unternehmen subventionieren oder Bergbaukonzerne ins Land holen, die bei der Förderung der Bodenschätze ihre giftigen Abwässer in die Umwelt entlassen und den Lebensraum der umliegenden Dörfer vergiften. Die Pläne, dadurch die Entwicklung des Landes zu finanzieren, sind noch nirgends aufgegangen.

Der südkoreanische Ökonom Ha-Joon Chang hat vorgerechnet, dass sich die technologische Kluft zwischen reichen Staaten wie den USA oder Deutschland und den ärmsten Ländern wie Äthiopien oder Tansania in den vergangenen Jahrzehnten von etwa 5 zu 1 auf etwa 60 zu 1 ausgeweitet hat. Selbst Schwellenländer wie Brasilien würden 5 zu 1 hinterherhinken, wenn es um die Produktivität ihrer Wirtschaft geht. Der Verdacht, dass die Globalisierung für den Großteil der Menschheit zur Falle wird, ist also keineswegs ausgeräumt.

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