Maschinistin - © Foto: iStock / fotografixx

Kampf dem Fachkräftemangel: Der Lehre die Krone aufgesetzt

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Die Wirtschaft pusht individuelle Ansätze zur „Lehre mit Matura“. Das soll Lehrberufe attraktiver machen und breite Bildungswege öffnen. In der Praxis gibt es gute Beispiele, strukturelle Probleme werden damit aber nicht behoben.

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Die Wirtschaft pusht individuelle Ansätze zur „Lehre mit Matura“. Das soll Lehrberufe attraktiver machen und breite Bildungswege öffnen. In der Praxis gibt es gute Beispiele, strukturelle Probleme werden damit aber nicht behoben.

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Auf den ersten Blick ist es eine ganz normale Schulklasse. 21 Schülerinnen und Schüler füllen den Raum in der neuen Mittelschule im niederösterreichischen Kirchschlag in der Buckligen Welt. Draußen ist es bereits dunkel. Für die Jugendlichen ist es der erste Schultag in ihrem neuen Kursmodul. Für die nächsten Monate steht für sie zweimal wöchentlich BWL am Stundenplan. „Die Prüfung ist im Mai“, erklärt die 19-jährige Natalie Pürer. Es ist ihre letzte auf dem Weg zur Matura. In Mathematik, Deutsch und Englisch hat sie die entsprechenden Prüfungen im Laufe der vergangenen drei Jahre abgelegt. Im Frühjahr folgte die Lehrabschlussprüfung als Bürokauffrau. BWL soll ihr das Reifeprüfungszeugnis bringen.

Ihr Weg ist eine von drei Möglichkeiten, in Österreich eine Matura zu erlangen. Neben den klassischen Wegen einer AHS- bzw. BHS-Matura kann die Berufsreifeprüfung seit dem Schuljahr 2009/2010 bundesweit als „Lehre mit Matura“ abgelegt werden. Seit Einführung des Modells haben laut ibw-Forschungsbericht rund 11.000 Menschen dieses Ausbildungsmodell absolviert. Die Zahl der Absolventinnen und Absolventen steigt der Statistik zufolge kontinuierlich.

Drei verschiedene Welten

Wer sich für dieses Ausbildungsmodell entscheidet, nimmt eine Dreifachbelastung in Kauf. Lehre, Berufsschule und Reifeprüfung sind jeweils in sich geschlossene und voneinander getrennte Welten. Lehrlinge müssen sich in allen Kontexten beweisen. Der Weg zur Reifeprüfung ist kein linearer wie in einer AHS oder BHS. Das erklärt der Klagenfurter Universitätsprofessor Peter Schlögl. Er hat das Modell aus Sicht der Bildungswissenschaften evaluiert.

Mittel- und langfristig werde es großen Nutzen stiften, da die Handlungsoptionen erweitert und ein Hochschulzugang ermöglicht würden. Strukturell gebe es aber noch einiges zu tun. „Es gibt Betriebe, die damit werben, aber auch solche, die keine Minute Arbeitszeit für die zusätzliche Ausbildung hergeben wollen“, nennt Schlögl ein Ergebnis seiner Evaluierung. Dabei sei auch ein Ost-West-Gefälle zu bemerken gewesen. Im Westen würden Betriebe der Ausbildung tendenziell mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen als im Osten. In der Praxis führe das dazu, dass sich eher jene für Lehre mit Matura entscheiden, die den Weg zur Reifeprüfung schon einmal eingeschlagen, aber aus verschiedenen Gründen eine höhere Schule abgebrochen haben.

Bürokauffrau Natalie Pürer passt in dieses Profil. Nach der Mittelschule versuchte sie es zwei Jahre am Gymnasium. Dann wechselte sie zurück, um die „Oberstufe“ in den Klassenräumen ihrer ehemaligen Mittelschule zu absolvieren. Den Weg zur Matura sei sie komplett unabhängig vom Lehrbetrieb gegangen. Die Abendschule habe das ermöglicht, sei aber nicht immer einfach gewesen und habe gerade auch Kolleg(inn)en aus anderen Berufssparten, deren Arbeitstag schon um 5 Uhr beginnt, gefordert.

Die Dreifachbelastung und fehlende Unterstützung sind laut Schlögl in vielen Fällen ein Grund, die Matura-Module wieder abzubrechen. Zahlen des Bildungsministeriums belegen: Zwischen 2008 und 2020 haben rund 36 Prozent der Teilnehmenden das vom Bund finanzierte Programm verlassen. Dabei hat die Wirtschaft ein hohes Interesse am Modell. Es geht nicht nur um das Ermöglichen höherer Bildungsabschlüsse, sondern auch darum, die Lehre als Ausbildung zu attraktivieren und damit dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Österreich ist Statistiken zufolge im internationalen Vergleich mit seiner beruflichen Erstausbildung relativ gut positioniert. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt laut Eurostat bei 10,6 Prozent, EU-weit sind es derzeit 13,8 Prozent – und der Anteil der 20- bis 24-Jährigen, die über einen Abschluss der Sekundarstufe II (Oberstufe) verfügen, liegt in Österreich bei 87 Prozent.

Hohe Berufsziele der Jugend

Kritisiert wird das österreichische Bildungssystem im internationalen Vergleich aber regelmäßig für die zu frühe Trennung von Jugendlichen im Schulsystem. Der Wiener Arbeitssoziologe Jörg Flecker hat in Zusammenarbeit mit Bildungswissenschafter(inne)n Wege von Jugendlichen nach der Mittelschule analysiert und festgestellt, dass NMS-Schüler(innen) sehr hohe Berufsziele haben, die sie auch dann beibehalten, wenn ihr Weg sie nicht an eine höhere Schule führt. Das Erreichen der Ziele sei für sie allerdings oft mit höherem Aufwand verbunden, sagt Flecker.

Welche Optionen und Möglichkeiten sie wahrnehmen und in Betracht ziehen, sei von diversen sozialen Faktoren geformt. Eltern, Freunde, Lehrkräfte und das Angebot an Schulen spielten wesentliche Rollen in der Berufsorientierung, die sich durch biografische Erfahrungen auch laufend verändern können. In Bezug auf Lehre mit Matura am Ausbildungsstandort meint Flecker: „Jede zusätzliche Maßnahme ist zu begrüßen, die jenen hilft, die noch einen anderen Bildungsweg einschlagen möchten.“

Zurück in die Bucklige Welt: Zehn Kilometer von Kirchschlag entfernt, im Nachbarort Krumbach, entsteht ein zweiter Standort für Lehre mit Matura. Das Angebot stellt hier das WIFI. Inhaltlich gibt es keine Unterschiede, aber die Kurse sind freitagvormittags geplant, integriert in die Arbeitszeit. Das braucht die Zustimmung der Lehrbetriebe. Rückendeckung gibt es von der Wirtschaftskammer, deren Vertreterin im Bezirk, Andrea List-Margreiter, das individuelle Ausbildungsmodell langfristig in der Region halten will. Das werde gelingen, weil es von den Unternehmen initiiert wurde. Mitinitiator in Krumbach ist der von Falstaff ausgezeichnete Gastronom Uwe Machreich.

„Es ist nebensächlich, ob die Lehrlinge später in der Branche bleiben. Wichtig ist, dass sie die Möglichkeit haben, so viel wie möglich an Know-how anzusammeln, das sie später wieder in ihre Regionen zurückbringen können“, zeigt er sich überzeugt.

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