Überfüllter Hörsaal, leere Werkstatt

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Die Lehre wird zu Unrecht stiefmütterlich behandelt, klagen Wirtschaft und Wissenschaft. Ein höherer Bildungsabschluss bedeutet nicht immer einen sozialen Aufstieg.

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Die Lehre wird zu Unrecht stiefmütterlich behandelt, klagen Wirtschaft und Wissenschaft. Ein höherer Bildungsabschluss bedeutet nicht immer einen sozialen Aufstieg.

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Mit Stehsätzen wie "Mein Kind soll einmal etwas Gescheites lernen" werde die Lehre in Österreich seit Jahrzehnten kaputt geredet, ärgert sich Martin Pöll. Der Wiener Tischlermeister hat große Probleme, geeignete Lehrlinge für seine Tischlerei im zwölften Bezirk zu finden. Das Problem sei nicht die Anzahl der Bewerbungen, sondern die mangelnde Qualifikation der Bewerber: "Das Niveau ist in den letzen 30 Jahren stetig gesunken. Das beginnt schon bei den Grundrechnungsarten, bei der Sprache, auch bei der Arbeitseinstellung", klagt Pöll. Die Anforderungen aber sind durch den technischen Fortschritt gestiegen. "Wir brauchen heutzutage Leute auf Maturanten-Niveau, und nicht jene, die halt für nichts anderes zu gebrauchen sind."

Der Betriebsleiter hofft auf eine Reform der Lehrlings-Ausbildung und auf ein besseres Image für die Lehre: "Man muss den jungen Leuten das Gewerbe als Alternative zu Matura und Studium schmackhaft machen. Am Land ist die Einstellung zur Lehre noch besser, in Wien ist sie katastrophal." Eigentlich merkwürdig, denn als guter Handwerker ist man heute finanziell weit besser aufgestellt als als Absolvent so mancher brotloser Studienfächer. Die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit herrscht in jenen Ländern, wo die Akademikerquote niedrig ist und es ein gutes Angebot für praxisorientierte berufliche Bildung gibt.

Viele Akademiker, wenig Prestige

In diese Kerbe schlägt nun der deutsche Philosoph Julian Nida-Rümelin: Zuviele junge Leute würden an die Hochschulen strömen, immer weniger eine Berufsausbildung absolvieren, warnt er in seinem Buch "Der Akademisierungswahn". "Eine hochwertige Ausbildung im dualen Berufssystem kann nur funktionieren, wenn die Mehrzahl eines Jahrganges weiter in die berufliche Lehre geht", so der frühere deutsche SPD-Kulturminister. Wenn nur die Leistungsschwächsten eine Lehre erwägen, würden die akademische und die berufliche Ausbildung darunter leiden.

Auch in Österreich bestätigen Zahlen diesen Trend: Nur mehr knapp 15 Prozent der Betriebe bilden Lehrlinge aus - Mitte der Achtzigerjahre waren es noch 25 Prozent. Seither hat sich die Anzahl der Lehrlinge nahezu halbiert - auf nunmehr 120.000. Im Gegenzug hat sich die Masse der Hochschul-Absolventen seit 1971 sogar vervierfacht. Dennoch sieht der Bildungswissenschaftler Stefan T. Hopmann von der Universität Wien die Warnungen von Nida-Rümelin gelassen: "Diese sozialromantischen Debatten über Akademikerschwemmen gibt es seit dem 19. Jahrhundert in regelmäßigen Abständen." Nida-Rümelin argumentiere aus der Perspektive des verletzten Bildungsbürgers: "Die anderen mögen bitte da bleiben wo sie hingehören und die akademische Jugend nicht ihrer Privilegien berauben." Die Rechnung ist einfach: Je mehr Leute über einen akademischen Abschluss verfügen, umso geringer ist dessen Tauschwert. Also kristallisieren sich neue Unterscheidungsmerkmale heraus - etwa, an welcher Universität man studiert hat. "In vielen Ländern ist ein Bachelor-Abschluss weniger wert als ein österreichischer Lehrabschluss, weil jeder zweite einen Bachelor hat", so Hopmann. "Deswegen hätten Wirtschaftsverbände gerne mehr Akademiker, weil diese in der Masse weniger Lohndruck erzeugen können."

Damit sich das Studium wieder lohnt, versucht etwa Dänemarks sozialdemokratische Regierung, die Anzahl der Studienplätze an den Arbeitsmarktbedarf anzugleichen. "Es ist unmöglich, vorauszusehen, welche Abschlüsse in zehn Jahren gefragt sein werden", kritisiert Hopmann. In Norwegen hat die Politik bereits realisiert, wie sehr die fortschreitende Akademisierung die anspruchsvolleren Lehr-Ausbildungen beschädigt, und rudert nun zurück. Auch in Österreich sind die Folgen des schlechten Images der Lehre spürbar: "Wer früher eine Lehre gemacht hätte, macht heute die Matura - und wer früher nach der Pflichtschule nichts gemacht hätte, macht jetzt eine Lehre", bestätigt Alfred Freundlinger, Bildungsreferent der Wirtschaftskammer.

Falsches Elite-Denken

Überhaupt sei das österreichische Verhältnis zur Lehrlingsausbildung ambivalent, meint Freundlinger: "Einerseits ist man stolz auf das duale System, weil es die Jugendarbeitslosigkeit niedrig hält. Andererseits wird die Lehre als unterste Bildungsstufe angesehen." Insgesamt stecke die Bildungsdebatte quasi noch in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts fest, kritisiert Hopmann: "Die Idee, dass der beste Bildungs-Abschluss eine AHS-Matura ist, weil das der Großvater noch nicht durfte, steckt in den Knochen der SPÖ-Politiker. Und die konservative Seite reagiert darauf wie im alten Rom und will bloß keine Unterschiede einebnen."

Vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund sind mit der Tradition der Lehrlings-Ausbildung oft nicht vertraut: "Manche sehen nicht ein, warum man eine Lehre beginnen soll, wenn man als Hilfsarbeiter anfangs mehr verdient", berichtet Freundlinger. Mit der Berufsreifeprüfung und der Lehre mit Matura soll auch Spätstartern oder Leuten, die sich neu orientieren wollen, die Hochschulreife ermöglicht werden. Die Berufsakademien, eine Kooperation von Wifi und Fachhochschulen, bieten Mitarbeitern ohne Matura die Möglichkeit, eine akademische Ausbildung zu absolvieren.

Um aber an der Wurzel des Problems anzusetzen, müsse die Berufsorientierung an den Schulen verbessert werden, ist Freundlinger überzeugt. "Allzu oft forcieren ehrgeizige Eltern eine wenig erfolgreiche Schullaufbahn am Gymnasium, obwohl ihr Kind für eine Berufsausbildung geeigneter wäre." Dass allein am Gymnasium die Begabteren zu finden wären, ist laut Bildungsexperte Hopmann ein längst empirisch widerlegtes Klischee. "Eine Maschine zum Laufen zu bringen, kann kognitiv genauso anspruchsvoll sein wie Griechisch oder Latein." Er befürwortet die formale Gleichstellung von Lehrabschluss und Bachelor oder Master: "Der Lebens- und Lernaufwand ist ja nicht geringer. Aber hier zählt ein Bachelor mehr, als 20 Jahre Leiter einer Lehrwerkstatt gewesen zu sein."

Berufswege jenseits der Norm

Den beruflichen Erfolg nur an formalen Zertifikaten festzumachen, gehe an der Lebensrealität vorbei: "Was nützt mir die Promotion über den Regenwurm im Weinviertel, wenn ich den Hof meiner Eltern übernehmen will?", fragt Hopmann. Einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern erreichen laut der OECD-Studie "Bildung auf einen Blick" zwar überdurchschnittlich wenige Menschen in Österreich. Doch höhere Bildung bedeutet nicht unbedingt einen sozialen Aufstieg: Nach der Definition der OECD sind Leute wie Bill Gates, Mark Zuckerberg, Peter Handke und Udo Jürgens soziale Absteiger. Wie also die Schieflage von akademischer und beruflicher Ausbildung beheben? Hopmann: "Am besten wäre es, zu sagen: Formal ist nicht entschieden, welchen Weg du gehst! Du musst einfach deinen eigenen Weg gehen!" Immerhin lebt eine pluralistische Gesellschaft davon: Dass viele verschiedene Menschen verschiedene Dinge gut können - und tun.

Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Von Julian Nida-Rümelin, Körber 2014.256 Seiten, broschiert, € 16,00

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