Die Achillesferse Freiheit

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Nach der Betroffenheit über das sinnlose Töten von Paris bleibt es nicht erspart, den kühlen Kopf einzusetzen, wie aus dem Kreislauf der Gewalt herauszukommen wäre.

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Nach der Betroffenheit über das sinnlose Töten von Paris bleibt es nicht erspart, den kühlen Kopf einzusetzen, wie aus dem Kreislauf der Gewalt herauszukommen wäre.

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Mag sein, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Aber man kann versuchen, aus ihr Lehren zu ziehen. Nach den Anschlägen von Paris, nach der Betroffenheit über das sinnlose Töten bleibt es nicht erspart, den kühlen Kopf einzusetzen, das Nachdenken zu forcieren, wie aus dem Kreislauf der Gewalt des dschihadistischen Terrors herauszukommen wäre. Klar bleibt: Es gibt keine simplen Antworten. Keine sicheren Lösungen. Und mutmaßlich keine kurzfristigen Erfolge.

Eine Erinnerung an 9/11, das größte dschihadistische Verbrechen im Westen, zeigt, wie hilflos, ja kontraproduktiv geopolitische Reaktionen darauf waren: Die USA forcierten den Kampf gegen die Despotie Saddam Husseins im Irak, die jedenfalls nicht für die Attentate von 9/11 verantwortlich war. Die Kaskade, die dies auslöste, reicht bis in die unmittelbare Gegenwart: Der Irak erscheint als Staat völlig zerrüttet, Syrien nicht minder, Libyen ist gleichfalls auf diesem Weg, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die zerstörten Regimes mögen schrecklich, ja menschenverachtend (gewesen) sein, doch was folgte, brachte statt Besserung nur noch mehr Devastierung. Der aktuelle Flüchtlingsstrom ist eine unmittelbare Folge davon.

Nur fundamentalistisch Positionierte haben einfache Lösungen

Und westliche Gesellschaften erlebten jetzt wieder in Paris, dass die Gewaltfantasien, die via "Islamischer Staat" oder Ähnliches über Medien und soziale Netzwerke verbreitet werden, bei ihren verlorenen Kindern ankommen und auf fruchtbaren Boden fallen. Ja, es handelt sich um eine globale Herausforderung, die nicht mit einzelnen Rezepten angegangen werden kann. Ja, es muss zu Lösungsschritten in Nahost kommen. Ohne diese wird der Terror nicht zu beenden sein. Und es muss zu einer ehrlichen Auseinandersetzung über die Gewaltbereitschaft, die mitten in den Gesellschaften beispielsweise in Europa wächst, kommen. Mühsame, langwierige Prozesse stehen an.

Nur fundamentalistisch Positionierte -auf welcher Seite auch immer - können mit einfachen Antworten aufwarten.

Es gibt große Gefahren für die Gesellschaft. Damit ist nicht nur die terroristische gemeint. Denn der Terrorismus ist eine Bedrohung der Freiheit, des kostbarsten Gutes, das nicht zuletzt Europa sich mühsam erkämpft hat, und das sich nun als Achillesferse entpuppt: Wenn sich Europa der Freiheit mit dem Argument der Sicherheit begibt, haben die Dschihadisten gewonnen.

Der Islam muss Teil der Lösung sein

Natürlich steht der Islam im Zentrum der Auseinandersetzung. Ob die überwältigende Mehrheit der friedlichen Muslime will oder nicht: Auch sie müssen Antworten finden, wie ihr Glaube sich zur Freiheit verhält, wie er gegen Missbrauch immunisiert werden kann. Das bleibt eine Herkulesaufgabe. Umgekehrt spielt auch eine Dämonisierung der Religion den Terroristen in die Hände: Ja, der Islam ist Teil des Problems (wenn auch beileibe nicht die einzige Ursache!). Aber der Islam muss gleichzeitig Teil der Lösung werden. Auch daran führt kein Weg vorbei. Das bedeutet - für Muslime wie für Nichtmuslime -Augen und Ohren zu öffnen für gewaltfreie, kontextuelle Auslegungen von Koran und Tradition - und diese anzuerkennen.

Dem entgegen droht weitere Polarisierung - auch hierzulande. Die Islamkritikerin Necla Kelek verstieg sich dieser Tage in der Neuen Zürcher Zeitung gar, die Begrenzung der Religionsfreiheit zu fordern, bis die Muslime beweisen würden, "dass sie friedlich sind". Kelek setzte hinzu, es bestehe zwar kein Generalverdacht gegen die Muslime, "aber die Unschuldsvermutung gilt auch nicht mehr".

Vor derartiger Vereinfachung ist zu warnen. Sie verunmöglicht den Dialog, der vielleicht noch gar nicht richtig begonnen hat. Und sie sägt an den freiheitlichen Grundfesten der Gesellschaft. Das ist ebenso bestürzend wie die Toten von Paris oder die zahllosen Opfer, die tagtäglich in Nahost zu beklagen sind.

otto.friedrich@furche.at

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