Die Grünen als neue Bürgerliche

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In Stuttgart stellen die Grünen künftig den Oberbürgermeister. Die FAZ misst dem Ergebnis Signalwirkung weit über die Kommunalpolitik hinaus bei.

Als der grüne Wahlsieger und künftige Oberbürgermeister Fritz Kuhn triumphierend ins Stuttgarter Rathaus einzog, fiel von grüner Seite das böse Wort Osterburken. So heißt eine kleine Gemeinde nördlich von Heilbronn. Früher, als der Südwesten noch als ein Stammland der CDU galt, gaben konservative Ministerpräsidenten stets die Devise aus: Die Wahlen werden in Osterburken oder Ratzenried gewonnen. Der Wahlsieger Fritz Kuhn analysierte am Montag dann ausgiebig die Malaise der Verlierer und kam zu dem Schluss: "Die Grünen sind in Stuttgart und in Baden-Württemberg hegemonial geworden, das heißt auf eine freundliche Art beherrschend. Die Aufteilung in ein bürgerliches Lager aus FDP und CDU einerseits und dem Rest andererseits ist falsch wie nur was.“ Die Grünen lassen keine Gelegenheit aus, um sich selbst das Schmucketikett "bürgerlich“ anzuheften. […]

Rostbraten vom Biobauernhof

Die Grünen profitieren in vollem Umfang von einem Wertewandel, der charakteristisch ist für viele Wähler im Alter zwischen 35 und 55 Jahren. Junge Stuttgarter, ergab kürzlich eine Meinungsumfrage, fragen nicht mehr nach dem neuesten PS-starken Porsche. Sie wollen aber wissen, ob der Rostbraten vom Ökobauernhof stammt. Hinzu kommt: Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Modell Grün-Rot und den üblichen rot-grünen Regierungen: Winfried Kretschmann. Der erste grüne Ministerpräsident der Republik stößt in allen Bevölkerungsgeschichten auf so große Akzeptanz, dass jeder Angriff der Opposition an dem präsidial regierenden Mann abperlt wie das Wasser am Seehundpelz.

Die CDU liegt wie ein Marienkäfer auf dem Rücken und strampelt: Sie ist in der Frage, wie sie die Großstädte zurückerobern kann, in den vergangenen zehn Jahren trotz immer neuer Anläufe und unzähliger Kommissionen keinen Schritt weiter gekommen. Sie wird nun all diese Frage vermutlich in neuen Kommissionen noch einmal stellen, aber in der Politik ist es schwer, auf Entwicklungen zu reagieren, die man kollektiv verschlafen hat. Vorbei ist vorbei. Die Grünen sind - nicht nur in Stuttgart - eine Aufsteigerpartei des neuen Bildungsbürgertums. Im Südwesten helfen ihr einige ideelle Grundströmungen, die sie sich zu eigen gemacht haben: der Wertkonservatismus und die Anthroposophie. Hinzu kommt der Postmaterialismus der Wohlstandsgesellschaft.

Neue CDU-Köpfe für Stadt und Land gesucht

Vor sechs Jahren hatte der damalige Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU, heute ist er EU-Energiekommissar; red.) diese geradezu tektonische Verschiebung in der Gesellschaft im Südwesten richtig analysiert, seine Partei wollte aber das Experiment Schwarz-Grün nicht wagen. Rückblickend und mit einem politisch trittsicheren Ministerpräsidenten wäre das vielleicht die Chance der CDU gewesen. Jetzt braucht die CDU für die urbanen Wähler in den Städten und auch für das Land eine neue Strategie und vor allem neue, junge Köpfe. Das kann Jahre dauern. Parteilose und Seitensteiger - das hat der vergangene Sonntag wieder einmal gezeigt - können den Volksparteien wenig helfen. Sie müssen ihr Personal für wichtige Wahlämter schon aus ihrer eigenen Mitte hervorbringen. Verzichten sie hierauf, demotivieren sie ihren Nachwuchs und diejenigen, die ihre Freizeit statt auf dem Tennisplatz in Ausschusssitzungen verbringen.

Auch der Strategie der CDU, die Landbevölkerung gegen die urbanen Tagträumer mit grünem Parteibuch auszuspielen, wird kein Erfolg beschieden sein. Selbst in Osterburken und Ratzenried ticken die Uhren heute anders als vor zwanzig Jahren. […]

* Frankfurter Allgemeine, 23. Oktober 2012

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