Die Welt bunt stricken

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Strick- und Häkelgraffiti nehmen übersehene oder vergessene Orte mit Wolle in Besitz - und statt Topflappen entstehen DNA-Sequenzen.

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Strick- und Häkelgraffiti nehmen übersehene oder vergessene Orte mit Wolle in Besitz - und statt Topflappen entstehen DNA-Sequenzen.

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Es gibt ein Foto mit meinem Vater als Kind: er und sein Bruder Hand in Hand, beide in einem selbstgestrickten Norwegerpullover. Dahinter meine Oma, auch sie im selbstgestrickten Pulli. Sie lächelt, die Brüder schauen grantig in die Kamera. Meinen Vater juckt dieser Pullover noch heute.

Als ich stricken lernte, schwitzten meine Finger im Kampf gegen meinen "Feind", die verkehrten Maschen. Später, kurz vor der Matura, klapperten wir begeistert mit den Nadeln vor wohlwollenden Lehrern, denn so waren wir ruhiger und aufmerksamer. Das waren die 80er-Jahre, auf den Parteitagen der Grünen wurden munter Socken produziert, Stricken und Häkeln war in. Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre ebbte der Trend ab, die Hälfte der Wollläden machte dicht. Nebst wenigen Babydecken für den Nachwuchs meiner Freundinnen ruhten auch meine Nadeln.

Zeichen und Protest

Um die Jahrtausendwende begann die Trendumkehr. Zunächst nahmen -beginnend in den USA -Künstler und Aktivisten neuartige Maschen auf, weit weg von Häkeldeckchen oder kratzenden Öko-Pullis: 2005 gründete Madga Sayeg in Austin, Texas, die Gruppe Knitta. Diese Gruppe bestrickte die Stadtlandschaft, keineswegs wahllos - nicht nur Laternenmaste, Autoantennen oder Parkuhren wurden umgarnt, man versah auch Überwachungskameras mit Häubchen. 2006 präsentierte die dänische Künstlerin Marianne Joergensen vor dem Nikolaj Contemporary Art Center im Herzen Kopenhagens einen pink umstrickten Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg - ein Protest gegen den Irakkrieg. "Anders als Krieg steht Stricken für Zuhause, Fürsorge und Zeit zum Nachdenken" begründet sie die Wahl ihres Mediums. Das gemeinschaftlich erschaffene Kunstwerk bestand aus 4000 gestrickten und gehäkelten 15 x 15 cm großen Einzelteilen aus der ganzen Welt. Am 19. März 2008, fünf Jahre nach dem Beginn des Irak-Krieges, traf sich die "Granny Peace Brigade"(Großmütterliche Friedensarmee) vor dem Armee-Rekrutierungsbüro auf dem Times Square in New York zu einem "Knit-In", sie strickten "stump-socks", Socken für verstümmelte Soldaten und Kleidung für irakische Familien.

Eines der Objekte dieser Zeit, eine Granny-Square-Häkeldecke mit dem Nike-Symbol, ist in der aktuellen Ausstellung "Disobedient Objects" (ungehorsame Objekte) im Londoner Victoria and Albert Museum zu sehen. Mit der Decke protestierten Handarbeiterinnen aus aller Welt auf Initiative der Künstlerin Cat Mazza gegen Missstände in der Textilindustrie. Auf der welt-weitwebenden-Plattform www.microrevolt.org sieht man nicht nur, aus welchen Teilen der Welt die einzelnen Teile stammen, man kann auch "knitpro" runterladen, eine Software, die Fotos und Vorlagen aller Art in Strickanleitungen verwandelt.

Die neue Handarbeitergeneration

Viele der Handarbeiten und Aktionen der Handarbeitergeneration 2.0 entstehen gemeinschaftlich, häufig initiiert von Leuten mit künstlerischem Background, textile Techniken erobern vermehrt auch die Kunstwelt, oft wird dabei das gemeinschaftliche Häkeln und Stricken selbst zum Kunstwerk.

Die seit 2007 in London aktive Gruppe "knit the city" animiert vor allem per Internet zu Strickgraffiti, also dazu, gestrickte und gehäkelte Spuren aller Art im städtischen (oder ländlichen) Umfeld zu hinterlassen und so vergessene Orte mit Wolle in Besitz zu nehmen und wieder sichtbar zu machen. Die ganze Welt wird als Kunstgalerie behandelt. Inspirierte Nachahmer gibt es viele: in Berlin wurden gestrickte bedrohte Wörter wie "blümerant" ausgesetzt; in Salzburg wurde unlängst der Landesheilige Rupertus vor dem Dom an seinem Namenstag mit einem Pullover eingekleidet. Auf dem Salzburger Schrannenmarkt verkauft seit Jahren eine ältere Dame selbstgehäkelte Blumen, den Jahreszeiten angepasste kleine Kunstwerke. Beim Schlendern durch das Düsseldorfer Galerienviertel Flingern stieß ich auf umstrickte Fahrradständer. Zwei ältere Damen, eine mit Gehstock, kamen vorbei und bemerkten mit Bedauern, "ach, da hat uns jemand einen Teil geklaut." Sie wohnen in einem nahen Altersheim und haben ihre Aktivitäten von Socken auf die Straße verlagert. "Sie bestricken die ganze Gegend hier", erzählte später ein Galerist.

Was als sympathisch-exzentrische Mode und Aktivismus Anfang der Nullerjahre begann, ist zum nachhaltigen Trend geworden. Die Wollindustrie verzeichnet sagenhafte Zuwächse und Suchanfragen für Themen wie Stricken für Anfänger steigen exponentiell. Während Seiten wie Etsy oder Dawanda effizient Selbstgemachtes vermarkten, sind es jedoch Seiten wie Youtube und Ravelry, eine Art Facebook für Strickund Häkel-Aficionados, die die Handarbeitswelt revolutionierten. Die Kombination von Internet und Social Media mit den alten Handarbeitstechniken hat den Strick- und Häkeltrend befeuert und genährt.

Die Wienerin Elizzza, alias Elisabeth Wetsch, verkörpert diese erfolgreiche Fusion der virtuellen und der wollenen Welt. Die Werbetexterin und Webdesignerin lud 2009 erstmals ein Strickvideo auf Youtube hoch, seither ist daraus ein Fulltime-Job geworden, bislang verzeichnet sie 62 Mio. Klicks auf ihre Anleitungsvideos - aus der ganzen Welt. Es gibt zahllose Strick- und Häkelblogs (viele auch von Männern), bekannte Schauspieler von Julia Roberts bis zu Harald Krassnitzer outen sich als begeisterte Stricker und betonen, wie entspannend und therapeutisch Stricken oder Häkeln ist. Diese relativ einfachen Techniken bilden also einen Kontrapunkt gegen die Schnelllebigkeit von Arbeit und Alltag und erzeugen Geselligkeitsformen, die verschwunden waren. Viele Handarbeitsläden verfügen über Sofas und auf Seiten wie Ravelry erfährt man per Mausklick, wo sich in der näheren Umgebung Stricker und Häkler treffen.

DNA-Sequenzen stricken

Ein Grund für den Erfolg der Fusion ganz alter und ganz neuer Techniken ist, dass man durch Stricken und Häkeln auch komplizierte naturwissenschaftliche Zusammenhänge besser verstehen kann. "Eine Strickanleitung ist nichts anderes als Dreidimensionales aus einer codierten Formel zu schaffen", erklärt die englische Wissenschaftlerin und Journalistin Alice Bell.

Die an der amerikanischen Cornell University lehrende lettische Mathematikprofessorin Daina Taimina etwa hatte in ihrer Ausbildung große Schwierigkeiten, die Prinzipien von hyperbolischer Geometrie zu verstehen. Als sie ihren Studenten einen Aspekt davon, das Konzept exponentiellen Wachstums greifbar machen wollte, hatte sie beim Anblick der dazugehörigen Grafik ein Aha-Erlebnis: Das sieht doch aus wie eine Häkelanleitung. Das Modell war schnell gehäkelt -nach der Nutzung im Unterricht wurden ihre Häkelarbeiten in Galerien ausgestellt, 2009 erschien ihr Buch "Crocheting Adventures with Hyperbolic Planes."

Davon inspiriert initiierten die kalifornischen Wertheim-Schwestern Margaret, Wissenschaftsautorin, und Christine, Professorin für "Kritische Studien", das wohl größte gemeinschaftliche Kunstprojekt, das "Hyperbolic Crochet Coral Reef": eine Kombination von Mathematik, Marinebiologie, Ökologie und Kunst. Lokale, dezentrale Gruppen können teilnehmen und ein Korallenriff häkeln -aktuell zeigt das Deutsche Textilmuseum Krefeld das "Föhr Reef", gehäkelt 2012 von mehr als 700 Personen auf der gleichnamigen Insel. Wer also mit Topflappen oder Pullis nichts am Hut hat, findet im Netz Anleitungen für gehäkelte oder gestrickte DNA-Sequenzen, Mikroben und Bakterien ...

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