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Begegnung mit einem Matrosenanzug

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Ganz gewiß wird es über die Frage, warum bei uns die kleinen Kinder ausgerechnet Matrosenanzüge trugen, aufhellen- de, ja geradezu erschöpfende Doktorarbeiten geben - worüber gäbe es keine deutschen Dissertationen? Aber ich kenne sie nicht. Sollte die Sehnsucht des Binnenländers nach der Freiheit der Meere sich darstellen in diesem Irrgarten von Maschen und Manschetten, von Kragen und Plastrons, über die noch zu sprechen sein wird? Dann hätten aber die Küstenbewohner allenfalls einen Gegenbeweis liefern müssen in der Form, daß sie ihre Kinder alpin maskierten. Der Sommerfrischenmummenschanz alter Zeiten unserer nördlichen Brüder in „Seppelhosen” und deren Ehegesponsin- nen in Dimdlkleidermustern, die sämtliche geschützten Bergblümen ungeschützt den Blicken des Beschauers darboten, darf hier außer Betracht bleiben.

Besonders absurd wollen mir die kleinen Matrosenmäderln erscheinen, die Matrosinnen, wenn man so sagen kann. Ach, was mußten diese kleinen Matrosenmäderln aufpassen auf die Faltenröcke und wie töricht hingen unter den Mützen die Zöpfe herab - die Bänder der Mütze „verwurschtelten” sich mit den Maschen der Zöpfe.

Maschen - da ist er wieder heraufbeschworen, dieser ganze gräßliche Fundus von Kragen und Manschetten, von Knöpfen und Knopflöchern, die - wie das so hübsch heißt

- korrespondieren mußten, um einen vorschriftsmäßig adjustierten Liliputmatrosen - sozusagen einen Minivollmatrösen - zu ergeben. Aber wie oft korrespondierten sie nicht? In besseren Matrosenfamilien mit einiger Kinderzahl wiederholte sich Sonntag für Sonntag und bei jedem Besuchmachen oder Besuchempfangen diese labyrinthische Hetzjagd: Da wies der Ausschnitt . der Matrosenbluse Knopflöcher auf und das Plastron, das Latzerl, das eigentlich zu einem Knopfkragen gehörte, auch. Ach, hart stießen sich da im Raume Knopf an Knopf oder

Knopfloch an Knopfloch - bei Kragen und Plastron gab es diese, an die beiden Königskinder, die zusammen nicht kommen konnten, gemahnenden Tragödien - aber nicht nur dort. Stimmte es beim Hals, dann drohte noch Unheil von den Manschetten, die auch aufgeknöpft werden mußten, aber manchmal ihrerseits mit Knöpfen ausgestattet waren. Und endlich noch die Masche, die vorn unter dem Kragenausschnitt zu tragen war - wie bei den echten Matrosen - und die daher vermutlich einen jener Schifferknoten darstellen sollte, zu denen wohl das Seemannsgam geschlungen wird. Etwa ein Weberknoten oder ein Kreuzknoten. Sehr symbolisch heißen in der Seemannssprache alle diese Knoten auch Stiche. Der Kindermatrosenanzugknoten war ein Stich - gewissermaßen der letzte Atoutstich in dieser Mutter und Kind zermürbenden Sonntagsstaatswirtschaft. Diese Knoten oder Stiche reichten nämlich bis unter den breiten Matrosenkragen. Hier war der Stich befestigt, aber leider nicht hieb- und stichfest, sondern wiederum entweder mit einem Drücker oder mit einem Haftl. Der halbe Teil eines Drückers oder eine Haftlhälfte ist für gar nichts, weshalb der Volksmund sehr lieb von Mandl und Weibl als erst zu einem zweckvollen Ganzen führenden Einzelteilen spricht - freilich eine indirekte arge Abwertung von Junggeselle und Junggesellin.

Dieser Hexensabbat von Knöpfen und Knopflöchern, von Haftln und Druckern, von Mandln und Weibln, von Knoten und Stichen, von Mützen und Latzerln - auch wenn dieses ganze meerlose, aber doch auch wieder uferlose familiäre Marinearsenal Josef Weinheber mit der schönen Schlußstrophe seines Gedichtes „Vorfrühling in Schönbrunn” verklärte:

„Eben aus hellen Kindheitstagen,

immer noch da, und so namenlos fern!

Eben hat fein eine Glocke geschlagen -

ach, auf dem blauen Matrosenkragen prangten dem Knaben drei schneeweiße Stern”, so kann man hier doch nicht umhin, von einem Fortschritt zu sprechen. Gewiß, er, der Fortschritt, hätte nicht unbedingt vom Deck seiner Majestät Schiff auf die Rücken der

Pferde der Texas-Reiter führen müssen - aber Träger dieses Fortschrittes- Träger im buchstäblichen Sinne des Wortes - sind die Kinder.

Ein plastronfreies Geschlecht wird sich in einem haftl- und drük- kerlosen Europa integrieren und keine chauvinistischen Matrosenmützenbänder kennen.

Diese Bänder boten einst tatsächlich den Eltern, natürlich insbesondere den Vätern, die Möglichkeit, weltanschauliche Demonstrationen über den Köpfen ihrer unmündigen Kinder auszutragen - ein Vorgang, der ins Gigantische gesteigert, ja immer wieder in der Welt- und Kriegsgeschichte sich zu ereignen pflegt.

Ich entsinne mich genau noch, daß es damals Knaben und Mädchen gab, deren Matrosenmützenbänder „Tirpitz”, „Gneisenau” oder „Emden” auf jene Flottenmacht hinwie- . sen, deren Oberster Schiffsherr, also Kaiser Wilhelm II., ihr bei passenden und unpassenden Gelegenheiten zurief „Volldampf voraus!” oder „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser!” Merk- und Marksprüche, die sich natürlich nicht für Kindermützenbänder eignen. „Volldampf voraus!” trägt man nicht auf dem Hut, und daß die Zukunft auf dem Wasser liege, darf man als Transparent erst recht keinem Kind antun, das seinerseits vielleicht noch gar nicht so richtig auf dem Trockenen ist.

Die Matrosengewandkinder, deren Kostümierung auch äußerlich k. u. k. Charakter aufwies, hatten es besser, da Österreichs Zukunft ja niemals auf dem Wasser liegend vermutet worden war, also konnten sie den Wahlspruch ihres alten Kaisers, der zugleich Name eines der größten Schiffe der österreichischen Kriegsmarine war, ungescheut auf den kleinen Matrosenkappln tragen: „Viribus unitis” - mit vereinten Kräften. Diese Devise wurde, so fern das Schiff gemeint war, von Volks- und Kennermund zur schlichten Formel „Die Firibus” vereinfacht.

Seit es sich gezeigt hat, daß just etwas mildere klimatische Verhältnisse sogar einen Eisernen Vorhang wenn auch nicht gerade zum Schmelzen, so doch zu einigen durchlässigen Stellen bringen können, bevölkern viele Besucher aus der altvertrauten nahen südlichen Nachbarschaft die Grazer Kaufhäuser. Hier erfolgte meine letzte Begegnung mit einem Matrosenanzug.

Etwas verloren stand sein kleiner Träger zwischen der weiblichen Übermacht seiner Sippschaft.

Freiligrathfiel mir erst später ein, als ich daheim die Begegnung überdachte:

„Ich kann den Blick nicht von euch wenden,

ich muß euch anschaun immerdar.”

Dabei handelte es sich hier durchaus nicht wie bei Freiligrath um Auswanderer, sondern nur um Einkäufer. Aber der kleine Slowenenbub schien mir wie ein Bote aus fernem Kinderland, den irgendein Zauber aus halb jahr hundertlangem Märchenschlaf plötzlich erweckt hatte.

Kragen und Manschetten, Knopf und Knopflöcher, Plastron, Latzerl, Mandl, Weibl, Drücker Haftl, Haftl- hälften, Stich und Knoten, Kreuz- und Weberknoten - auf einmal wurde dieses ganze Sammelsurium in mir lebendig wie ein summender Bienenschwarm. Nur das Mützenband konnte ich nicht lesen. Es ist anzunehmen, daß nicht mehr „Viribus unitis” auf ihm stand, und gewiß auch nicht „Tirpitz” oder „Gneisenau”. Vielleicht „Proleter”, wie ein recht luxuriöses Boot heißt, das offizielle Besucher vom Festland zur Inselresidenz des Staatspräsidenten befördert. Der Begegnung mit dem Matrosenanzug tat es aber auf keinen Fall Eintrag, was immer nun die Schrift auf dem Mützenband bekennen mochte. Zudem war es noch ein Matrosenanzug von der köstlichsten Sorte, was die Länge der Hose betraf, die so rührend altmodisch-zweckmäßig angelegt war, daß ich versucht bin, diese Hose als Beinkleid zu bezeichnen.

Ländliche Firmlinge trugen sie in der guten alten Zeit gern bei uns. Die städtische Spottsucht nannte sie „Dreivierteltakthosen”, weil sie weder lang noch kurz waren. Sie gingen gut handbreit über die Knie und konnten so von mindestens zwei nicht allzuweit durch Größe und Alter getrennte Brüder getragen werden. Vom einen als zu lange kurze und vom ändern als zu kurze lange Hose - Urbild und Symbol aller künftigen politischen Kompromisse.

So war ein Stück Alt-Österreich gerade aus einem Raum vor meinen Blick getreten, in dem eigentlich kein Stück Alt-Österreich noch Raum haben sollte. Christian Morgenstern irrte, auch wenn er noch so messerscharf schloß. Es kann offenbar doch sein, was nicht sein darf. Man muß es nur erkennen, auch in der seltsamsten Verkleidung. Dann kann sogar eine Dreivierteltakthose den Takt für einen ganzen Reigen verklungener, aber nie vergessener Melodien anaeben.

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