"Ich bin Berber, Araber, Afrikaner"

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Emmanuel Mbolela erzählt in "Mein Weg vom Kongo nach Europa" seine Flüchtlingsodyssee. In der Anthologie "Briefe an einen jungen Marokkaner" formulieren 18 Autoren ihre Wut und Trauer über den Zustand Marokkos.

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Emmanuel Mbolela erzählt in "Mein Weg vom Kongo nach Europa" seine Flüchtlingsodyssee. In der Anthologie "Briefe an einen jungen Marokkaner" formulieren 18 Autoren ihre Wut und Trauer über den Zustand Marokkos.

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"Emmanuel Mbolelas Buch ist ein Buch des Widerstandes, des Aufstandes des Gewissen." So charakterisiert der Schweizer Soziologe Jean Ziegler "Mein Weg vom Kongo nach Europa" des kongolesischen Autors. Darin wird an einem individuellen Schicksal die Odyssee des Ökonomiestudenten und politischen Aktivisten Emmanuel Mbolela beschrieben, der auf Grund seiner subversiven Tätigkeit in der Demokratischen Republik Kongo staatlichen Repressionen ausgesetzt war und deshalb emigrieren musste.

Im 1. Kapitel gibt der Autor einen anschaulichen Einblick in die politischen Verhältnisse seines Heimatlandes, in dem Terror, physische Vernichtung von Oppositionellen und maßlose Korruption an der Tagesordnung standen und stehen. Um der wachsenden Verelendung und drohender politischer Verfolgung zu entgehen, wählen viele Menschen die Migration.

"Chronik der Migration"

Mbolela berichtet eindringlich von jenen Erfahrungen, die er gemacht hat: Hunger und Entbehrungen, das Leben in illegalen Ghettos, die ständige Angst, entdeckt oder ausgeraubt zu werden, die Erpressung durch Schlepper und Geschäftsleute, die brutale Vergewaltigung von Frauen, die weit verbreitete Korruption von Exekutivorganen unterschiedlicher afrikanischer Staaten und die Feindseligkeit der Einheimischen, speziell in Marokko und Algerien. In beiden Ländern wurden die Migranten gezwungen, sich in den Wäldern zu verstecken, wo sie kaum Zugang zu den notwendigsten Subsistenzmitteln hatten und von Razzien bedroht wurden.

In Marokko begann Mbolela seinen zähen Kampf um den offiziellen Flüchtlingsstatus der Vereinten Nationen. Nachdem er die Bestätigung für den Asylantrag erhalten hatte, wähnte er sich am Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Aber weit gefehlt: im marokkanischen Alltag war das Dokument nichts wert, es schützte weder vor Polizeiwillkür noch vor Abschiebungen. Auch ein "normales Leben" war unmöglich; die afrikanischen Migranten wurden von jeglicher Arbeit, Schulbildung oder Sozialleistung ausgeschlossen.

Durch die Predigten eines evangelischen Pastors wurde Mbolela bestärkt, eine Organisation der "Sans Papiers" zu gründen, die den Namen ARCOM -"Association des Réfugiés et Demandeurs d'Asile Congolais" ("Vereinigung kongolesischer Flüchtlinge und Asylwerber") trug. Als Aktivist dieser Organisation kümmerte er sich auch um jene Menschen, denen es nicht gelang, die besonders raffiniert gebauten Grenzzäune von Ceuta und Melilla zu überwinden, die die Festung Europa vor dem Flüchtlingsansturm schützen sollten. Mbolelas ohne großes Pathos formulierte "Chronik der Migration", die dennoch einen tiefgehenden Einblick in das Grauen solch eines Unternehmens vermittelt, ist von einer Grundintention getragen: "Ich will mit meinem Buch darüber aufklären," bekennt der Autor, "warum Menschen ihre Heimat verlassen, wie Migrationswege verlaufen, aber auch um den politischen Entscheidungsträgern in den europäischen Ländern zu zeigen, wie ihre Migrationspolitik Menschenleben gefährden und zerstören kann".

Aufruf zur Veränderung

Marokko - der Albtraum für afrikanische Migranten - ist auch das Thema einer anderen Publikation, in der zahlreiche Perspektiven auf das soziale und kulturelle Milieu Marokkos eröffnet werden. Der Schriftsteller Abdellah Taïa hat die Anthologie "Briefe an einen jungen Marokkaner" herausgegeben, in der 18 Autoren zu Wort kommen. Dabei werden die Wut und die Trauer über den Zustand eines Landes formuliert, das von erschreckender Armut, von Korruption, Polizeiwillkür und dem Verharren in paternalistischen Strukturen geprägt ist.

Der Titel nimmt Bezug auf Rainer Maria Rilkes Werk "Briefe an einen jungen Dichter", in dem er Ratschläge gibt, wie man "große Traurigkeiten, die wir als Lähmung empfinden", überwinden kann. Diese existenziellen "Traurigkeiten" sind das Resultat einer tiefgehenden gesellschaftlichen und kulturellen Krise, aus der es nur einen Ausweg gibt; nämlich dem circulus vitiosus des Selbstmitleids zu entkommen oder wie es Taïa formuliert: "Sich nicht mehr, wie so viele in Marokko, damit zu begnügen, den weltfremden Intellektuellen zu geben, sondern sich nicht mehr zu unterwerfen, Paternalismus und Machismus zu brechen". Taïa setzt so ein Projekt fort, das bereits mit der europäischen Aufklärung begann; speziell mit Immanuel Kants Aufforderung: "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"

Beeindruckend ist die Vielfalt der Stimmen, die den Aufruf zur Mündigkeit aufnehmen; so rät etwa der bekannte Schriftsteller Tahar Ben Jelloun, diszipliniert zu arbeiten, sich keinen Illusionen hinzugeben und Bescheidenheit und Selbstbeschränkung zu lernen. Einen wesentlichen Impuls, sein eigenes Ego nicht zu wichtig zu nehmen, erhielt er von Jean Genet, der ihm sagte: "Man muss sich in den Dienst der anderen stellen, nicht in den Dienst des eigenen Egos!". Das bedeutet keineswegs eine falsche Bescheidenheit, sondern ein Bekenntnis zur Authentizität, wie es von dem Gestaltungsund Videokünstler Mounir Fatmi in dem Beitrag "Sag nein und steh zu dir!" formuliert wird. Fatmi nimmt Bezug auf die Maschinenmetapher der französischen Autoren Gilles Deleuze und Félix Guattari: "Man muss die 'Maschine' dekonstruieren, man muss aussteigen und sich so weit wie möglich von ihr entfernen, muss die Wertehierarchien verwerfen".

Besonders bemerkenswert ist der Essay der Schriftstellerin und Journalistin Sanaa El Aji. Auch sie ruft leidenschaftlich dazu auf, die Ketten der Unmündigkeit abzustreifen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen: "Nimm aktiv teil an der Veränderung dieses Landes, von der du träumst, und verlasse dich nicht völlig auf die Entscheidungsträger". Zur Authentizität zählt auch die Absicht, "ein weibliches Leben" zu führen, sich nicht länger mit paternalistischen Vorschriften und Verhaltensmustern zu beschäftigen: "Lebe deine Weiblichkeit, lebe deine Freiheit und deine Schönheit mit aller Lebenskraft, die du aufbringen kannst!"

Ein zentrales Element der Briefe besteht in dem Bekenntnis, jegliches eindimensionale Denken zu vermeiden. Das betrifft nicht nur die religiöse Tradition, sondern auch "heilige Werte" der Philosophie: So stellt der Schriftsteller Mohamed Hmoudane das Konzept der einheitlichen Identität radikal in Frage. "Ich bin Berber, Araber, Afrikaner und so weiter".

Die Ablehnung jeglichen eindimensionalen Denkens und die Präsentation polyphoner Positionen, die oft in einem emphatischen Tonfall vorgetragen werden, ergeben ein faszinierendes Mosaik. Diese Briefe vermitteln einen unverhüllten Blick auf die soziale und kulturelle Realität Marokkos, die üblicherweise von touristischen Schablonen übertüncht wird.

Mein Weg vom Kongo nach Europa

Von Emmanuel Mbolela, Mandelbaum 2014. 191 S., kart., € 14,90

Briefe an einen jungen Marokkaner

Herausgegeben von Abdellah Taïa, Passagen 2013. 208 S., kart., € 25,90

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