"Krieg ist das Losungswort. Sieg!“

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Im "West-östlichen Divan“ greift Goethe das Drama der Grande Armée im Winter 1812 auf: Der Winterfeldzug des Asien-Eroberers Timur 1405 gegen China endete im Desaster.

Da Goethe im Wendejahr 1813 mit dem "West-östlichen Divan“ "sich aus der Gegenwart retten“ wollte, holten ihn "die ungeheuren Weltbegebenheiten“ immer wieder ein. Das "Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker aufeinanderschlagen“ wurde in Deutschland, für Europa bittere Realität. Die Katastrophe der Grande Armée im russischen Winter 1812 griff der Dichter im Dezember 1814 mit der Übersetzung der Timur-Biografie von Ibn Arabˇsah auf. Napoleon wird mit dem gewaltigen Eroberer Asiens gleichgesetzt: Der Winter mit "seinen frostgespitzten Stürmen, / Stieg in Timurs Rat hernieder, / Schrie ihn drohend an und sprach so: / Leise, langsam, Unglücksel’ger! / Wandle du Tyrann des Unrechts […] Meine Lüfte sind noch kälter als du sein kannst, / Quälen deine wilden Heere / Gläubige mit tausend Martern.“ Amir Timur - so nennt man in Usbekistan noch heute den uns als Tamerlan/Timur Lenk (d. h. der Lahme) bekannten Kriegsherrn und Reichsgründer - erlag mit seinem Heer im Februar 1405 der "Todeskälte“ auf seinem Winterfeldzug gegen China.

"Koth und Noth, Mangel und Sorge …“

Der Divan, entstanden aus orientalistischen Sprachstudien und in poetisch-erotischer Spannung mit Suleika, Marianne von Willemer, geformt, erschien vollständig erst 1819. "Timur Nameh“, das Buch des Timur, ist die Verbindung zwischen den zugleich mystischen und weltfrohen Liebesgedichten des Hafis und dem "Buch Suleika“. "An Suleika“ schloss Goethe an Timurs Wintertod ein Gedicht, dessen Rosenöl-Metaphorik den Leser bestürzt: "Sollte jene Qual uns quälen? / Da sie unsre Lust vermehrt. / Hat nicht Myriaden Seelen / Timurs Herrschaft aufgezehrt!“ Woran dachte Goethe hier - vielleicht an Joséphines berühmte Rosengärten von Malmaison, verewigt durch die Stiche von Redouté, oder kamen ihm Darstellungen von Khanen, Sultanen, Großmoguln mit Rosenknospen in der Hand, zwischen Schädelpyramiden und Paradiesgärten in den Sinn? Goethes (und der Deutschen) schwieriges Verhältnis zu Napoleon steht hinter diesem ästhetischen Zynismus.

Hatte der junge Goethe mit "Götz von Berlichingen“ und "Egmont“ klarsichtige Analysen der frühneuzeitlichen Revolutionen geleistet, wendete sich der Minister von der Französischen Revolution bald ab; "begeisternde Freiheit und löbliche Gleichheit“ wurden überschattet und entwertet von "Krieg und Zügen bewaffneter Franken“ ("Hermann und Dorothea“). Die "Campagne in Frankreich“ 1792 erlebte Goethe als "Koth und Noth, Mangel und Sorge […] zwischen Trümmern, Leichen, Äsern und Scheishaufen“ - erst 30 Jahre später schwang er sich dazu auf, die Kanonade von Valmy zur welthistorischen Epoche zu (v)erklären. In Napoleon begrüßte Goethe wie so viele Deutsche staatliche Ordnungsmacht durch Überwindung der Revolution unter Wahrung ihrer bürgerlichen Rechtsprinzipien und die Perspektive einer Neugestaltung Europas. Selbst Plünderungen der Franzosen nach der Schlacht von Jena - Herzog Karl August stand im preußischen Lager, Napoleon nahm vom 15. bis 17. Oktober 1806 im Weimarer Schloss Quartier - machten ihn nicht irre.

Unter diesen Vorzeichen kam es zur Begegnung am Fürstenkongress zu Erfurt, der den Zaren Alexander I. fester an Napoleon und die Rheinbundstaaten binden sollte, in der ehemals kurmainzischen Statthalterei am 2. Oktober 1808. Hier fielen in Gegenwart Talleyrands, der schon geheime, seinem Chef entgegenlaufende Fäden spann, zwischen Frühstück und Kontributionsangelegenheiten, Napoleons Worte an oder über Goethe: "Vous êtes un homme“ bzw. "Voilà un homme.“ Man muss nicht das biblische Ecce homo oder gar Nietzsches Übermenschen bemühen, wenn man weiß, dass Napoleon seine Soldaten über sich am liebsten als "l’homme“ reden hörte - einer wie wir. Napoleon bezeichnete eine Stelle in dem von ihm wiederholt gelesenen "Werther“ als "nicht naturgemäß“ - noch heute dürfen sich Germanisten darüber den Kopf zerbrechen. Mit Goethe, Wieland und Johannes von Müller besprach der Kaiser die Problematik eines Cäsar-Dramas. Neben dem russischen St. Annen-Orden trug Goethe fortan stolz das rote Band der Ehrenlegion und legte es auch nach dem Sturz "meines Kaisers“ nicht ab. Er blieb für ihn "ein Kerl“, "Halbgott“, "Kompendium der Welt“. Napoleons Wort von "Politik als Schicksal“ haftet im Gedächtnis.

"Der Mann ist euch zu groß“

Goethe versagte sich zunächst der Aufbruchstimmung der Befreiungskriege: "Ja, schüttelt nur an euren Ketten! Der Mann ist euch zu groß; ihr werdet sie nicht zerbrechen“ - so zu Schillers Freund Regierungsrat Christian Gottfried Körner, dessen Sohn Theodor im Frühjahr 1813 in Kampf und Tod zog. Auch gegenüber dem politisch engagierten Historiker Heinrich Luden blieb Goethe nach der Völkerschlacht skeptisch, ob "wirklich die Freiheit gewonnen“ sei: "Franzosen sehe ich nicht mehr, aber ich sehe Kosaken, Baschkiren, Kroaten, Magyaren, Kassuben, Samländer, braune und andere Husaren.“ Nur mit Mühe konnte eine Schar Donkosaken von der Einquartierung im Haus am Frauenplan abgehalten werden …

Das allegorische Festspiel "Des Epimenides Erwachen“, begonnen im Mai 1814 nach Napoleons Abdankung in Fontainebleau und am 30. März 1815 (Jahrestag der Einnahme von Paris durch die Alliierten 1814) vor dem preußischen Hof in Berlin aufgeführt, da eben der gestürzte Korse sich zum heroischen Abenteuer der hundert Tage auf den Weg machte, blieb seltsam ambivalent. Dem manchmal zu den Sieben Weltwiesen gerechneten Philosophen und Priester Epimenides aus Kreta wurde ja das doppelsinnige Dictum zugeschrieben: "Alle Kreter sind Lügner.“ Was ist Wahrheit in der Geschichte, die Goethe als "Unsinn für den höheren Denker“ bezeichnete?

"Ruht im Frieden seiner Hände“

Den 4. Akt von "Faust II“ mit dem Kampf zwischen Kaiser und Gegenkaiser sollte man als Parabel der Kriege der historischen Monarchien gegen den aus der Revolution aufgestiegenen Franzosenkaiser lesen. Der "Obergeneral“, in dessen Rolle Faust schlüpft, deutet auf Erzherzog Karl, der Goethe seine Werke zur Strategie schenkte. Das Feld behaupten im Kampfgetümmel - "furchtbarer Posaunenschall von oben, im feindlichen Heere merkliche Schwankung“ - "drei Gewaltige“: Raufebold, Habebald und Haltefest.

Die anlässlich des Todes Napoleons verfasste pathetische Ode Manzonis übersetzte Goethe con amore, und in einem nachgelassenen Gedichtentwurf ("Am jüngsten Tag, vor Gottes Thron, / Stand endlich Held Napoleon“) wollte er ihn (wie Faust) von der Höllenstrafe erlöst wissen.

In diesem Sinn darf auch die Gestalt des Euphorion, Fausts und Helenas Sohn, verstanden werden. Gewiss, Goethe nannte Byron als Vorbild, doch hat der Heldenjüngling viel von Theodor Körner: "Träumt ihr den Friedenstag? / Träume, wer träumen mag, / Krieg ist das Losungswort. / Sieg! Und so tönt es fort! […] In Drang um Drang zu Schmerz und Qual / und der Tod / ist Gebot. / Das versteht sich nun einmal.“ - Noch warnt der Chor: "Überall Gefahr, / tödliches Los!“ und beklagt den Todessturz: "Ikarus! Ikarus! Jammer genug.“ - "Kleid, Mantel und Lyra bleiben liegen.“ - Körners Vater gab die Gedichte des Sohnes unter dem Titel "Leyer und Schwert“ 1814 heraus. Das letzte Wort des alten Goethe zu Mephistopheles’ Frage "Krieg oder Frieden“ lautet mit Euphorions "Stimme aus der Tiefe: Laß mich im düstern Reich, / Mutter, mich nicht allein!“ - Dieses Wort könnte auf den Denkmälern für die Gefallenen aller Kriege stehen, wie auch Goethes schönstes Friedensbekenntnis, ein Zitat aus dem Koran (Sura 2,115): "Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Okzident! / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände.“

* Der Autor ist em. Univ.-Prof. für Österreichische Geschichte

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