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Ich werde berührt, also bin ich: Plädoyer für eine neue Körperkultur als Antwort auf den ausufernden Körperkult.

Die Sehnsucht nach Berührung ist überwältigend. Ihre Bedeutung wird in ihrer Entbehrung am besten bemerkt. Da berichtet z.B. eine chilenische Studentin in Berlin, was sie in der europäischen Kultur vermisst: menschliche Wärme. Und wie äußert sich die? "In Chile fassen wir uns ständig an." Klagen wir nicht selbst über eine zunehmende menschliche Kälte? Und wäre es möglich, sich mehr anzufassen? Wohl nicht so ohne weiteres. Da ist auf der einen Seite zwar eine deutliche Sehnsucht nach Berührung. Dies wird auf der anderen Seite jedoch konterkariert von einer ebenso deutlichen Scheu vor Berührung, von "Berührungsängsten" in vielfacher Hinsicht. So selbstverständlich es für andere Kulturen ist, dass Menschen körperlich sind und dass dies auch im alltäglichen Umgang miteinander spürbar sein darf, so eindeutig ist diese Selbstverständlichkeit manchen Kulturen abhanden gekommen, sodass es zu einer Vernachlässigung des Körpers gekommen ist, deren Konsequenzen doppelt spürbar sind: Da ist einerseits die extreme Betonung des Körperlichen in einem regelrechten Körperkult, und andererseits die noch immer spürbare Scheu vor allem Körperlichen. Unsere Redeweise verrät uns: Wir "haben" einen Körper, wir haben auch ein "Verhältnis zu ihm" oder haben es nicht, als wäre er ein äußerliches Objekt.

Erotische Berührung

Vom Anfang bis zum Ende des Lebens tritt die Bedeutung der Berührung deutlich hervor: Jeder Mensch weiß aus eigener Erfahrung, dass Berührung geradezu "elektrisieren" kann, physisch und psychisch - ein Beispiel dafür, wie ein rein körperlicher Vorgang signifikante seelische Wirkungen erzielen kann. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Berührung eine grundlegende Technik der Erotik, vielleicht die einzige, bei der es niemals ein Zuviel zu geben scheint, immer nur ein Zuwenig. Aus glücklicher oder leidvoller Erfahrung kennen Menschen die beruhigende Wirkung einer streichelnden oder auch nur ruhenden Hand, wie sie Kindern oder leidenden Menschen dargeboten - oder versagt wird. Auch Sterbende haben oft kein größeres Bedürfnis als das nach der Hand, die ihre Hand hält und ihnen den Schweiß von der Stirn wischt.

Berührt werden ist Leben

Womöglich ist die Bedeutung der Berührung anthropologisch, das Sein des Menschen überhaupt erfassend, zu jeder Zeit und in jeder Kultur, sowie existenziell, soll heißen: die Existenz des jeweiligen Menschen steht dabei in Frage. Diese fundamentale Bedeutung lässt sich so zum Ausdruck bringen: Ich werde berührt, also bin ich - in Analogie zum "Ich denke, also bin ich" (cogito ergo sum) des Descartes, der damit im 17. Jahrhundert den modernen Kognitivismus und, so muss man sagen, eine philosophische Körperfeindlichkeit begründet hat. Wenn die Bedeutung der Berührung so grundlegend ist, dann gilt im Umkehrschluss, dass der, der nicht berührt wird, nicht recht weiß, wer er ist, und von Grund auf seiner selbst unsicher wird.

Im Unterschied zum Cogito, bei dem vom Selbst, das denkt, allein die Rede ist, kommt beim Berührtwerden von vornherein der Andere, der für die Existenz des Selbst entscheidend ist, ins Spiel. Berühren und Berührtwerden, das ist die Michelangelo-Situation, die Situation, wie Michelangelo sie im 16. Jahrhundert so zauberhaft in der Sixtinischen Kapelle in Rom gemalt hat: Mit dem ausgestreckten Finger berührt Gott den ersten Menschen, Adam, und erweckt ihn mit seiner Berührung zum Leben. Es ist eine Erfahrung, die tief in der Existenz jedes einzelnen Menschen verankert ist: Wenn ich berührt werde, lebe ich, und ich spüre, dass ich lebe. Diejenigen, die das Leben nicht spüren, sind diejenigen, die von nichts und niemandem mehr berührt werden. Berührung ist Aufmerksamkeit, die nur um den Preis entbehrt werden kann, psychisch und schließlich auch physisch auszudörren und zu verwelken.

Berührt werden wir über die Sinne, und dies nicht nur körperlich, sondern auch seelisch und geistig: Berührt durch den Anblick eines Gesichts, berührt durch das Hören eines Gesangs, berührt durch das Tasten einer Hand, berührt durch den angenehmen oder unangenehmen Geruch, der in der Luft liegt, berührt durch den Geschmack einer Speise, berührt vor allem durch das, was zu spüren ist, mit einem Gespür, das nicht so einfach zuzuordnen ist wie die fünf Sinne und dessen Existenz doch unbestreitbar ist. Zauberhaft ist es zweifellos, wenn Aktivität des Berührens und Passivität des Berührtwerdens ununterscheidbar miteinander verschmelzen. Das scheint beim Kuscheln der Fall zu sein: Haut an Haut zu schmiegen, ein Verschmelzen von Selbst und Anderem, von berührendem Subjekt und berührtem Objekt. Auch Tanz ist Berührung, beispielhaft bei jenem Tanz, der "Tango" genannt wird, lateinisch für: "ich berühre, ich betaste, ich fasse an".

Zärtlich oder zudringlich

Zweifellos gibt es aber, entgegen dem ersten Anschein, außerdem nicht nur ein Zuwenig, sondern auch ein Zuviel an Berührung, das zur Berührungsfolter wird, nämlich dann, wenn die Zärtlichkeit in Zudringlichkeit umschlägt. Das richtige Maß ist ein immerwährender Balanceakt, der sehr viel Gespür erfordert, Gespür, das nur mit der Erfahrung wächst und auch mit dem Austausch von Erfahrungen.

Seelische Berührung

Wie seelisches Berühren und Berührtwerden geschieht, ist nicht klar und demzufolge kaum zu erklären. Die Seele scheint eine Art von Aura zu sein, die nicht an den Körper gebunden ist, sich jedenfalls weit über ihn hinaus erstrecken, allerdings auch dermaßen sich in ihn zurückziehen und geradezu in ihm verbergen kann, dass kein Strahlen in den Augen mehr von dieser Aura kündet. Möglich könnte sein, sie im Körper ausfindig zu machen und die entsprechende Stelle besonders zu pflegen. Die Aura ist es, die dafür sorgt, dass man einem Menschen nahe sein kann, einem anderen aber nicht nahe kommen möchte. Die Ein- und Ausgänge der Aura sind offenkundig die Sinnesorgane, und über die fünf Sinne hinaus wohl noch ein sechster und siebter Sinn, Intuition und Gespür, die sich kaum einem Organ zuweisen lassen und deren Existenz doch gerade zwischen Freunden zweifelsfrei erfahrbar ist, auch über Räume und Zeiten des Getrenntseins hinweg. Wie das geschehen kann, wird wohl ein Geheimnis bleiben.

Metaphysische Berührung

Der weiteste Bogen, der für die Berührung gespannt werden kann, ist die metaphysische Berührung. In Frage steht das, was über die Grenzen dieser Existenz, d.h. über ihre Endlichkeit weit hinausgeht. Dieses Hinausgehen über Grenzen, die für die menschliche Existenz in zeitlicher und räumlicher Hinsicht gewöhnlich gelten: Das ist mit Transzendenz gemeint, von lateinisch transcendere, "überschreiten", das grundsätzlich auch das Überschreiten einer gewöhnlichen Schwelle meinen kann, jedoch zum Standardbegriff für das Überschreiten im absoluten Sinne geworden ist.

Was geschieht, wenn "der Himmel die Erde berührt"? Es geht darum, aufmerksam wahrzunehmen, was es denn ist, sodann, welche Bedeutung es haben kann, in welcher Weise Menschen davon berührt sein können, um dies gegebenenfalls für die Führung des Lebens zu berücksichtigen. Die Kunst der Lebenskunst besteht auch darin, das Bedürfnis nach einer Berührung des Transzendenten - und einem Berührtwerden durch diese Dimension - in seiner Bedeutung für das Leben zu erkennen und, die erkannte Bedeutung vorausgesetzt, sich selbst um den Bezug zu diesem begründenden und überwölbenden Horizont des Lebens zu bemühen. Dann erst wird die Berührung in ihrer ganzen umfassenden Bedeutung ausgeschöpft, physisch, psychisch, geistig, metaphysisch. Um des vollen Menschseins willen.

Der Autor ist freier Philosoph, der Text die Kurzfassung des Festvortrags zum Jubiläum 50 Jahre Bildung haus Schloss Puchberg am Sonntag,14. J ni, um 14:30 Uhr.

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