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Annähern heißt einschmelzen

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Nichts scheint die Sowjets so stark zu beunruhigen wie die Hinweise des Auslandes auf die intensive Russifizierungspolitik im Reiche der 120 Völker, Nationalitäten und Volksgruppen. Das kommunistische Regime hat zwar das Erbe nicht nur in der Unterdrückung der persönlichen Freiheit, sondern auch in der Entnationalisierung der nichtrussischen Völker übernommen. Es wehrt sich dagegen, daß es als Nachfolger der Zaren angesehen wird. So wie die Theorie über die Diktatur des Proletariats und den Klassenfeind den Eindruck bezweckt, es handle sich im kommunistischen Machtbereich um etwas grundsätzlich anderes als eine Fortsetzung der althergebrachten Gewaltherrschaft, versucht man sich auch im Bereich der Nationalitätenpolitik mit einer neuen Theorie, die als „Annäherung der Völker bei gleichzeitigem Aufblühen eines jeden Volkes“ bezeichnet wird und den Russifizierungs- prozeß verharmlosen soll.

Zwei Sowjetängste

Die Besorgnis der sowjetischen Machthaber hat zwei Gründe: Erstens droht jede Enthüllung der Russifizierungspolitik den Kommunismus seiner letzten Schmuckfeder zu berauben: Seiner Fähigkeit, die Nationalfraige durch Abschaffung der nationalen Unterdrückung und Ausbeutung und durch Gewährleistung der Gleichberechtigung der Völker zu lösen. Bisher konnte der Kommunismus immer zuerst unter den unterdrückten Minderheiten Anhänger gewinnen. Würde aber diesen unterdrückten Minderheiten bewußt werden, daß sie sich im Falle der Machtergreifung durch die Kommunisten einer schnelleren und verstärkten Vernichtung ihrer Eigenart ausgesetzt sehen würden, dann würden sie sich gewiß viel mehr der kommunistischen Propaganda versperren. Und zweitens verstärkt jede Erörterung der sowjetischen Nationalitätspolitik den Widerstand der nichtrussischen Völker. Der normale Sowjetbürger hat zwar keinen Zugang zu den westlichen Zeitungen und Zeitschriften, es ist jedoch erstaunlich, wie schnell sich die Informationen über solche Studien verbreiten, über Kanäle, die nicht feststellbar sind und deswegen nicht von den Sowjetbehörden unterbunden werden können.

Theorie der „Annäherung“

Es ist interessant, die theoretische Begründung der sowjetischen Nationalitätenpolitik in ihren Grundzügen kennenzulernen, so wie diese vom ersten Parteisekretär der SSR Moldau im August-Heft des theoretischen Organs „Comunistul Mol-dovei“ dargelegt wurde. In der ehemaligen rumänischen Provinz Bessarabien, in Weißrußland und in den Baltischen Republiken ist die Nationalfrage gleichmäßig akut.

Schon unter dem „Kapitalismus“ sei unter dem Einfluß der Konzentration der Güterproduktion, der Erweiterung der Bedürfnisse, der zunehmenden Produktionskräfte der Wirtschaft und der Kulturerfordernisse ein Prozeß der Internationalisierung des Völkerlebens eingeleitet worden. Dieser würde immer intensiver in der sozialistischen Gesellschaftsordnung: Im Unterschied zum Kapitalismus führt jedoch dieser Prozeß nicht zu einer Steigerung des Nationalhaders, der nationalen Beschränktheit und des Nationalegoismus, sondern zu einer immer größeren Annäherung zwischen den Völkern, sowohl in der Produktion wie auch in der Kultur. Die Annäherung trage zum Aufblühen einer jeden Nation bei, während anderseits die Anhebung des Wirtschaftsund Kulturniveaus der sozialistischen Nationen zu einer Vertiefung der gegenseitigen vielartigen Beziehungen führe.

Die Annäherung sei ein langwieriger Prozeß, der seinen Ausdruck in einem verstärkten Austausch auf den Gebieten der materiellen und geistigen Produktion, in der Liquidierung der Nationalisoliertheit, in der allmählichen Beseitigung der nationalen Unterschiede und in der Bildung von gemeinsamen kommunistischen Zügen in der Produktion, in der Lebensart, in der Kultur und in der Moral findet. Die Schaffung der technisch-materiellen Grundlage des Kommunismus führe nicht nur einen verstärkten Austausch von materiellen Gütern herbei, sondern sie stärke die Bevölkerungswanderung und vermehre die unmittelbaren Kontakte zwischen den Nationen.

Jedoch führe die „Multinationalität“ der Bevölkerung nicht automatisch zu einem internationalen Bewußtsein der Massen. Eine bedeutende Rolle komme deswegen den Partei- und Staatsfunktionären zu, die sowohl die Interessen der in der jeweiligen Republik die Mehrheit bildenden Nation als auch die der anderen mitwohnenden Nationalitäten wahrzunehmen und zu befriedigen hätten. Man brauche ein besonderes Taktgefühl, solle die Interessen und Traditionen eines jeden Volkes berücksichtigen und gleiche Voraussetzungen und Möglichkeiten für die Entwicklung der nationalen Besonderheiten gewährleisten.

Das Dilemma der Kulturen

Die Sowjetführer sind sich dessen bewußt, daß auf dem Gebiet der Kultur, im geistigen Leben, die nationalen Besonderheiten lebenszäher sind. Theoretisch wird jeder Nation zugebilligt, auf ihre eigenen geistigen Werte „stolz“ zu sein. Es wird aber bewußt ein Prozeß der „gegenseitigen Beeinflussung“ betrieben.

Dadurch sollen sich die Völker an-

einander annähern und sich gegenseitig „bereichern“.'Es gebe in der Sowjetunion „zurückgebliebene“ Völker und Nationalitäten. Infolge der sozialen, wirtschaftlichen und ideologischen Gemeinsamkeit würden die besten Schöpfungen der Nationalkulturen zu Gütern aller Völker und Nationalitäten des Landes. Es entstünden dadurch neue Traditionen, neue geistige Charakteristika, die gemeinsam allen sowjetischen Völkern seien. Das Kulturerbe jeder Nation bereichere sich mit neuen Werken, die den nationalen Rahmen überspringen, und erhalte internationalistische Züge. Im Prozeß der Umwandlung der nationalen Kulturformen würden sich diese vervollkommnen und annähern. Dabei sollten aber die Unterschiede und Besonderheiten weder übergangen oder mißachtet werden, denn dadurch würde man die Nationalgefühle verletzen, noch absolutisiert oder bewahrt oder übertrieben werden.

Für die russische „Kontaktsprache"

Auch für die Russifizierung der Sprachen wird der Ausdruck „Annäherung und gegenseitige Bereiche rung“ benutzt. Ein gemeinsamer Wortschatz ist insbesondere auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und sozialpolitischen Terminologie entstanden. Das Leben selbst erfordert außerdem, daß man nicht -nur die nationale literarische Muttersprache, sondern auch die „Kontaktsprache“ zwischen den Nationalitäten beherrsche, die in der Sowjetunion die russische sei. In der Sowjetunion seien alle Voraussetzungen für das Studium der russischen • Sprache geschaffen.

Die Schlußfolgerung ist nicht reine Zufriedenheit mit dem Erreichten. Das Aufblühen und die Annäherung der Nationen sei zwar ein objektiver Prozeß und eine Gesetzmäßigkeit — so Iwan Bodjul —, die Spontaneität könne jedoch nicht zugelassen werden. Einige Hinweise erläutern diese Meinung: Die nationalen Vorurteile seien lebensfähig und können in verschiedenen Formen dort erscheinen, wo ihre Gefahr unterschätzt werde. Sie kommen zum Ausdruck in dem Lokalismus, in den Versuchen, einige Kader gegen andere zu stellen, in der Lehre des nationalen Exklusivismus, in den Elementen des nationalen Hochmuts und der nationalen Beschränktheit, in den Idealisierungsversuchen der geschichtlichen Vergangenheit des eigenen Volkes, in den Versuchen, überholte und der sowjetischen Gesellschaft schädliche Tendenzen, Bräuche und Traditionen in Rosafarben darzustellen. Ebenso schädlich seien auch gewisse Äußerungen der Verachtung der nationalen Besonderheiten anderer Völker, die in den Sowjetrepubliken leben, sowie die Ignorierung ihrer (der eingesiedelten Minderheiten) Nationalinteressen.

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