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Der fünfte Stand erwacht

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Die Ärzte, Apotheker, Chemiker, Mit- telschulprofessoren, Studenten und nun sogar die Hochschullehrer, 6ie alle und viele noch Kommende, die vormals in der Tagespresse nur mit Beiträgen unter dem Strich in Erscheinung treten mochten, füllen jetzt immer mehr die aktuellen Spalten. Sie alle, die bisher in jener jede wahre Kultur auszeichnenden Scheu vor der Öffentlichkeit ungestört ihren Idealen und geistigen Aufgaben zum Wohl der Nation leben wollten, werden genötigt, die Sprache der Zeit zu sprechen und „gewerkschaftliche Mittel anzukündigen. Sie alle, bisher mehr oder minder Ange hörige des Mittelstandes, hatten mit wahrer Lammsgeduld die soziale Vernichtung dieses dritten Standes auf sich genommen und finden sich nun zum großen Teil in einem neuen geistigen Proletariat des fünften Standes wieder. Je rascher die Demontage der kulturellen Werte durch die Diktatur der Majorität fortschreitet, desto lebendiger wird der Widerstand in diesen Kreisen, die oft schon nichts mehr zu verlieren haben.

Ein solcher Geist zeichnete auch die letzte Plenarsitzung der „Arbeitsgemeinschaft für Kunst und Wissenschaft" aus. Man erinnere sich: der Notring der wis-

senschaftlichen Verbände, der mit seinen 102 gelehrten Gesellschaften und 30.000 wirklichen Mitgliedern die stärkste kulturelle Organisation Österreichs darstellt, warb für einen weiteren Zusammenschluß aller Kulturschaffenden; denn lediglich dieser umfassende Zusammenschluß kann die gegenwärtige Mißachtung der kulturellen Werte überwinden. Verschiedene Sektionen der Gewerkschaften, die meisten Kunstverbände und der Notring formten sich deshalb zu der taktischen Einheit der „Arbeitsgemeinschaft für

Kunst und Wissenschaft" und vermochten in langwierigen, oft recht spröden Verhandlungen ein einheitliches Programm aufzustellen, das zu 20 Punkten verdichtet werden konnte. Er erschien den maßgebenden Vertretern der zuständigen Organisationen als ein Sofortprogramm zur Erhaltung unserer Kultur. Am 10. Mai sollten diese 20 Punkte in einer Massenkundgebung als Forderung aller Kulturschaffenden Österreichs verkündet werden. Sie kam nicht zustande. Die sozialistischen Akademiker, der Verband der Geistig Schaffenden und die Hochschüler- schäft traten aus der Front; trotzdem blieb die auf überparteilicher Grundlage fundierte „Arbeitsgemeinschaft“ in Aktion.

Das zeigte die letzte Plenarsitzung, bei der sich unter Vorsitz von Univ.-Prof. Dr. H. W. Du da an die 70 Vertreter der größten unpolitischen Organisationen von Kunst und Wissenschaft zusammengefunden hatten, um in geschlossener Einmütigkeit und in unmißverständlicher Sprache kategorisch zu erklären, daß man weder Mittel und Wege scheuen werde, .um gegen den Kulturverfall anzukämpfen und die 20 Punkte zu verwirklichen, die inzwischen den maßgebenden Ministerien als Forderung der Arbeitsgemeinschaft überreicht worden sind.

Mit allem Nachdruck verwarnte eine der ÖVP nahestehende, im Gewerkschaftskampf erfahrene Persönlichkeit die großen Parteien, just an den Ausgaben für Kunst und Wissenschaft ihren Spar- sinn zu erproben und für die Kultur im großen ganzen nur Redensarten übrig zu haben: „Wir verlangen von den Parteien eine klare Stellungnahme zu unserem 20-Punkte-Programm, damit wir Hunderttausende bei den kommenden Wahlen wissen, für wen wir uns zu entscheiden haben." — Eine führende Persönlichkeit des Theaters, der SPÖ nahestehend, verwahrte sich mit allem Nachdruck dagegen, daß unter gewundenen Erklärungen selbst die keinerlei Kosten verursachenden Punkte der Forderungen dilatorisch behandelt werden: „Wir sind hier als die autorisierten Vertreter der maßgebenden Kulturorganisationen Österreichs und lassen uns von den Behörden nicht weiter wie Buben behandeln." — Und für das Mitspracherecht bei den Fragen kultureller Budgetierung, das — übrigens gemeinsam mit dem „Verband der Geistig Schaffenden“ — als Hauptforderung in den 20 Punkten verlangt worden ist, aber verweigert wird, konnte von einer parteiindifferenten Seite argumentiert werden, daß die Sportverbände Österreichs auf Grund eines Gesetzes über 40 Millionen Schilling verfügen, dem beschränkten Untertanenverband der Kulturverbände hingegen ein solches Recht nicht zugestanden werde.

Die Erbitterung, die bei allen Diskussionsreden mitschwang, bezeugte deutlich, daß die Geduld der Kulturschaffenden in Österreich erschöpft ist. Wenn auch nicht gleich ein Sturm gegen die Tintenbastillen vorgesehen ist, so schließen sich doch die Intellektuellen immer enger zusammen, um gegen die Zerstörung der höchsten Güter unserer begabten musischen Nation anzukämpfen. — Vorerst ist der Notring gebeten worden, eine Großkundgebung der gelehrten Gesellschaften am 7. November um 18.15 Uhr im Auditorium maximum der Wiener Universität durchzuführen, auf der jedoch auch Vertreter der Kunst sich in die gemeinsame Front einreihen werden.

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