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Die Sonne war stärker

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Um die Augustmitte ruht der politische Betrieb auch in Italien. Der Ferragosto, am Tage der Himmelfahrt Maria, einst die vom ersten Imperator Augustus eingeführte Ferienzeit der römischen Bevölkerung, ist gleichsam das letzte Signal zur Flucht aus der Großstadt. Hitze und Kalender befehlen.

Auch der nimmermüde neue Regierungschef Fanfani gehorcht. Seine 16 Ministerkollegen hatten, auf sein Geheiß, bis zuletzt ausgeharrt, um eine Flut von Gesetzentwürfen, welche den neuen Regierungskurs einleiten sollen, in Bearbeitung zu nehmen. Denn die bald wieder zusammentretenden Ausschüsse und die sich nicht viel später — voraussichtlich Mitte September — wieder versammelnden beiden Häuser des Parlaments sollen Arbeit vorfinden, möglichst pausenlos bis Weihnachten. Soweit es an dem reformeifrigen Fanfani liegt, soll bis dahin das wichtigste des neuen Gesetzgebungswerkes von den Volksvertretern bewilligt sein. Tunlichst soll zu Beginn des Jahre 1959 der neue Regierungskurs auf hohen Touren laufen. Für die in früheren Jahren immer wieder aufspringende abschätzige Kennzeichnung der Regierungsinitiative als „Immobilismus“ soll künftig kein Raum mehr sein.

Als letzter ging Fanfani in die Ferien. Im Sinne des beschwingten Rhythmus des Regierungschefs sagte der Rundfunk, daß dieser sich nur wenige Tage im Kreise seiner zahlreichen Familie in Camaldoli im oberen Arnotal erholen und Tag für Tag die fernmündliche Verbindung mit den Ministerien in Rom aufrechterhalten werde.

Es ist unmöglich, die zahlreichen Reformprojekte der Regierung Fanfani zu erörtern, die schon weit, vorgearbeitet sind. Die wesentlichen tragen durchwegs wirtschaftlich-sozialen Charakter und streben Höchstleistungen, zumal in Landwirtschaft und Industrie, an, wobei die das Menschenwerk unterstützende Maschinenarbeit, zumal auf dem Lande, zunächst Arbeitskräfte freisetzen wird.

Der in großem Stil einsetzende Ausbau des rückständigen Schulwesens, daran anschließend eine weitschichtige Berufsschulung, die den wachsenden technischen Anforderungen, zumal in der sich immer mehr rationalisierenden Industrie, Rechnung trägt und die auch die in der Landwirtschaft überflüssig werdenden Erwerbslosen allmählich aufnehmen soll, sind einer der wichtigsten Programmpunkte. Dieses Schulprogramm erstreckt sich auf zehn Jahre und wird in Höhe von 800 Milliarden Lire (gleich 31,8 Milliarden Schilling) vom Staat finanziert. Damit soll den für geeignet Befundenen, auch wenn sie mittellos sind, der Weg zu den höchsten Stellungen in Wirtschaft und Staat geebnet und vor allem eine Auslese ermöglicht werden, zu der es in der Vergangenheit überhaupt nie gekommen war.

Also ein soziales Werk mit zwei großen Zielsetzungen:

1. Beschäftigung für alle, auch für die im Rationalisierungsprozeß von Landwirtschaft .und Industrie frei werdenden Menschen, die, im Gegensatz zu früher, vorwiegend der wachsenden Industrialisierung (Industrie im eigentlichen Sinne, dann Handel, Bank- und Kreditwesen, Versicherungs-, Transportgewerbe usw.) zugeführt werden sollen.

2. Rüstung der zumal in Süd- und Inselitalien noch rückständigen Gesamtwirtschaft für die kommenden großen Aufgaben im Gemeinsamen Markt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wo Italien den fortgeschrittenen Nationen, besonders Deutschland, England und Frankreich, gewachsen sein will und muß. In der Landwirtschaft ist dieser Prozeß schon ziemlich weit gediehen. Der in früheren Jahren und Jahrzehnten stets defizitäre Weizenbau übersteigt seit kurzem den gesamten Brotbedarf und macht den Uebergang zur bislang vernachlässigten Viehzucht (in Italien die teuersten Fleischpreise I) vermöge erhöhter Futtermittelerzeugung auf den überzählig gewordenen Getreideflächen zur Notwendigkeit. Vor wenigen Tagen hat der Ministerrat diesen Richtungswechsel der Agrarerzeugung beschlossen.

Ausgesprochen soziale Zwecke verfolgt der Ausbau des größtenteils vom Staat finanzierten Fürsorgewesens, das erweitert wurde und das unter anderem die Altersversorgung der in Italien besonders zahlreichen Klein- und Zwergbauern sowie der Handwerker, im Grunde also selbständiger, aber hier ständig um ihr Auskommen ringender Existenzen, vorsieht. Das bislang nur bruchstückweise durchgeführte soziale Wohnungsbauprogramm ist nunmehr allumfassend in Angriff genommen worden.

Dies sind nur einige wesentliche Hinweise auf das Zwanzigpunkteprogramm Fanfanis, das nach Meinung vieler Kritiker aus dem Lager der über die hohen Steuern stöhnenden Groß-und Mittelunternehmer in diesem Umfang unerfüllbar erscheint. Schon heute beträgt die Last der indirekten und direkten Steuern je Kopf der Bevölkerung im Durchschnitt etwa 30 Prozent des Nettovolkseinkommens, wobei der Hauptanteil von den indirekten Steuern erbracht wird. Die in Italien besonders teuren Lebenshaltungskosten rühren zum Teil daher und treffen vor allem die Masse der kleinen Konsumenten. An die seit langem geplante Steuerreform im Sinne der Entlastung der „Kleinen“ und der höheren direkten Besteuerung der „Großen“ hat sich bisher auch das Kabinett Fanfani noch nicht herangewagt. Statt dessen hat es zunächst den säumigen Steuerzahlern und r'en Hinterziehern mit scharfen Strafdrohungen den Kampf angesagt.

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