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Karel Kramär: Das Programm eines Hochverräters

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Iw Holle-Verlag, Baden-Baden, erschien das Werk „Slawische Geisteswelt“, das von St. Hafner, O. Turecek und G. Wytrzens herausgegeben wurde. Aus dem Buch bringen wir folgenden interessanten Abschnitt:

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Iw Holle-Verlag, Baden-Baden, erschien das Werk „Slawische Geisteswelt“, das von St. Hafner, O. Turecek und G. Wytrzens herausgegeben wurde. Aus dem Buch bringen wir folgenden interessanten Abschnitt:

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In bezug auf das böhmische Sfaafsrecht ist dreierlei genau zu unterscheiden. Erstens versteht man unter dem böhmischen Staatsrechf das Verhältnis der untrennbar vereinten drei Länder der böhmischen Krone — Böhmens, Mährens und Schlesiens — zur Dynastie Habsburg. Dasselbe wurde 1526, 1545 und dann durch die pragmatische Sanktion, die von den Ständen aller Länder der böhmischen Krone angenommen wurde, geregelt, und dadurch ist das Erbrecht der Dynastie und anderseits das Recht der Vertreter der Länder der böhmischen Krone, im Falle des Aussterbens der Dynastie einen neuen König frei zu wählen, festgelegt. Zweitens das Verhältnis der unabhängigen, souveränen Länder der böhmischen Krone in ihrer Einheit zu den übrigen Ländern ihres Königs und zu den anderen Staaten. Driftens endlich das öffentliche, das Verfassungsrechf der Länder der böhmischen Krone, die Kompetenz der Landtage und der Administrative in den drei Ländern und die Rechte der Krone gegenüber den Ständen in Gesetzgebung und Verwaltung. Namentlich in letzterer Beziehung handelt es sich um Fragen, welche nie und nirgends ein für allemal feststehen, wie es mit den Fragen des Erbrechts der Dynastie und der Souveränität der Länder der Fall ist, sondern um Fragen, die der geschichtlichen Entwicklung unterliegen. Auch in den böhmischen Ländern ging diese Entwicklung von der Herrschaft des Adels zum Absolutismus des Königs ihren weltgeschichtlichen Weg, und sie würde unzweifelhaft zum modernen Konsfitufionalismus geführt haben, wäre diese Entwicklung 1749 durch Maria Theresia nicht unterbunden worden. Das Eingreifen Maria Theresias vergibt man, wenn man das böhmische Staatsrechf feudal nennt…

Seif mehr als dreißig Jahren isf das politische Leben Oesterreichs erfüllt vom Kampf gegen das böhmische Sfaafsrecht. So war dieses immer der Gegenstand erbitterter Kämpfe, selten aber einer objektiven Prüfung. Aus dem Kampf um das böhmische Staatsrechf wurde nicht nun ein Kampf der Zentralisfen gegen diejenigen, die den Staat angeblich zerreifjen wollen, sondern vor allem ein Kampf des deutschen Bürgertums gegen den böhmischen Feudaladel, dem das böhmische Volk so lange Gefolgschaft leistete, nur, weil er für das böhmische Staatsrechf kämpfte. Es ist richtig, das böhmische Volk vergab dafür dem Adel seine reaktionären Tendenzen, wenigstens nach außen hin. Es blieb aber selbst liberal, demokratisch, wie es seine Geschichte und seine soziale Schichtung wollen. Aber das Staatsrechf an sich hat ja mit der Frage des Liberalismus der Demokratie gar nichts zu tun. Das böhmische Sfaafsrecht, soweit es in unserem staatsrechtlichen Kampf in Betracht kommt, ist und bleibt nur die Frage des Verhältnisses der Länder der böhmischen Krone zur habsburgischen Dynastie und zu den übrigen Ländern derselben. Wie die innere Ausgestaltung der Verfassung und der Verwaltung der böhmischen und auch der übrigen Länder unserer Reichshälfte im Falle der Restituierung des böhmischen Sfaatsrechtes aussehen würde, hängt mit dem rechtlichen, unabänderlichen Gehalt des böhmischen Staatsrechtes gar nicht zusammen, sondern nur davon ab, wer das ganze Problem lösen wird. Werden es die Vertreter des deutschen und böhmischen Volkes im gemeinsamen Einverständnis tun, um der Sache des gesunden Fortschritts und der Demokratie zu dienen, dann bedeutet die Lösung der Frage des böhmischen Sfaatsrechtes den Sieg des Fortschritts und der Demokratie für unsere ganze Reichshälfte. Nach dėn Erfahrungen der letzten Zeit haben auch die Deutschen eingesehen, ęĮal gigejTj.-

” böhmische V’ölk alles’,'' ur flieht feudal’ ist, und die Losung, daß der Kampf gegen das i böhmische Staatsrecht den Kampf des Liberalismus gegen den Feudalismus und die Reaktion bedeute, empfinden wirklich liberale und fortschrittliche Deutsche selbst als jene Phrase, welche nur sehr mit Vorsicht gebraucht werden darf. Es scheint also die Zeif der objektiven Prüfung des böhmischen Sfaatsrechtes gekommen zu sein. Die alten Verhältnisse sind in voller Auflösung, und etwas Neues will und mufj kommen. Ein Teil der alten liberalen Partei sucht die politische Verbindung mit dem böhmischen Adel zu festigen und durchzubilden, wogegen alles, was unter den Deutschen wirklich Fortschritt und die Demokratie will, einzusehen beginnt, daß es zu einer Besserung nur einen Weg gibt: den Frieden der beiden Völker, des deutschen und des böhmischen. Und das böhmische Volk anderseits will nichts sehnlicher, als den ehrlichen Frieden mit den Deutschen. Beide fühlen jedoch, daß der Weg zum Frieden verstellt ist durch ein Hindernis, das niemand fortzuschaffen weiß und das doch nicht einfach beiseite gelassen werden darf und kann. Da ist es vielleicht doch an der Zeit, das, was beide Völker trennt, etwas näher zu besehen und zu prüfen, und es ist nicht unmöglich, daß nach einer beiderseitigen objektiven, ruhigen Prüfung erkannt wird, daß das böhmische Sfaafsrecht für beide Völker gleiche Vorteile bringt, ja, daß es die Anbahnung neuer, gesunder Verhältnisse in unserem Reiche bedeutet… Die Furcht der Deutschen vor einem Frieden mit den Böhmen, vor dem böhmischen Staatsrechf in nationaler Beziehung, ist wahrhaftig nicht berechtigt. Die Tschechen wollen ja nichts anderes als volle Gleichberechtigung und wären bereif, in nationaler Hinsicht den Minoritäten jeden Schutz zu gewähren. Ein Nafionalitätengesetz in den drei Ländern der böhmischen Krone zu schaffen, ist ja keine Schwierigkeit, wenn beide Teile auch gleich guten und aufrichtigen Willen zum Frieden haben. Die volle Gleichberechtigung verlangt allerdings von allen Beamten die Kenntnis beider Sprachen. Aber das isf doch alles andere, nur nicht ungerecht…

Man wird allerdings mit dem alten Einwand über die Tschechisierung der deutschen Städte in Böhmen kommen und Jitschin und Jungbunzlau zitieren. Weniger berechtigt kann aber ein Einwand gar nicht sein. Diese Städte waren immer bölhmisch, nur galt es vor fünfunddreißig Jahren noch als eine Bedingung, Deutsch zu sprechen, um zu den „höheren Klassen” gezählt zu werden — welche beim Amtsdiener anfingen —, und das war der deutsche Charakter der Städte. Mit dem nationalen Aufschwung, mit dem Heranwachsen junger Generationen nahm diese nicht sehr schöne Sitte ein Ende, und die Städter präsentierten sich auch auf der Straße so, wie sie zu Hause waren — böhmisch. Kein billig Denkender wird doch darin eine nationale Vergewaltigung sehen.

Die Böhmen haben ganze Gebiete, große Städte an die Deutschen verloren, aber nichtsdestoweniger hat die böhmische Politik nie etwas anderes in Böhmen verlangt, als die volle und strikte Gleichberechtigung für beide Nationalitäten. Und diesem Programm wird man in Böhmen immer treu bleiben. Uebrigens können ja, wie gesagt, die Deutschen selbst die Garantien, die sie fordern, aufstellen und formulieren, und wenn diese nicht das böhmische Sfaafsrecht präjudizieren oder die Unteilbarkeit des Landes bedrohen, so werden sie von dem böhmischen Volk ohne weiteres angenommen werden. Aber die letzte Bedingung ist die Conditio sine qua non eines Ausgleichs mit den Deutschen für jede böhmische Partei.

Durch den nationalen Frieden zum Staatsrechf — das ist es, was alle freiheitlichen und demokratischen Elemente unter den Böhmen sehnlichst verlangen. Und damit will man ja nichts Neues. Das böhmische Staatsrechf, wie es sich historisch entwickelt hat, wie es vor Maria Theresia gewesen, war das Staatsrechf beider Nationen, der böhmischen und der deutschen. Und erst der Zentralismus Maria Theresias mit seiner Germanisation hat dieses Band zu zerreißen gesucht. Aber das Zusammenleben, die vielhunderfjährlge Geschichte, die gemeinsamen Leiden, die Tatsache, daß das böhmische Flachland mit seiner tandwirfschaff und das deutsche Gebirgsland mit seiner Industrie in allen drei Ländern die idealste ökonomische Einheit bilden, welche man sich nur verstellen kann die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen, sie werden hoffentlich doch stärker sein als alle Vorurteile und unbegründeten Befürchtungen, die bisher beide Nationen zu ihrem größten Schaden trennten.

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